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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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suchen hier ihren unverwechselbaren Geruch - Stallgeruch. Ihre Lebensphilosophie: "Ob<br />

Sonnenschein oder Regen, wir sind dagegen" - "Kein Schwanz ist so hart wie das Leben" - "Was ist<br />

das für ein Land, in dem morgens um sieben die Sonne aufgeht".<br />

Ein bunt zusammengewürfeltes Völkchen prägt heute das Elendsquartier von einst. Zu<br />

ihm gehören alte, gebrechliche Endsiebziger aus Anhänglichkeit oder weil ihnen die Ein-Zimmer-<br />

Neubauwohnung im Norden der Stadt zu teuer ist. Aber auch düstere Bars mit Billardtischen,<br />

Puffs und Pornos, Oma-Kneipen, in denen alte Leute nachmittags auf dem Plüschsofa Schultheiss-<br />

Bier oder Kognak trinken und dabei unentwegt schwatzen. Spielhallen mit Flipper und Kicker<br />

liegen gegenüber der Mauer, Krämerläden gibt es an jeder Ecke, Kartoffelläden zum Beispiel, in<br />

denen es nur Kartoffeln und Zwiebel gibt. Einige Straßenzüge sind fest in türkischer Hand -<br />

türkische Geschäfte, Kneipen und Moscheen, Schleier und Turbane auf den Bürgersteigen.<br />

Trotzdem streunt noch ein Straßenkläffer durch die Gegend, der so gar nichts Orientalisches an<br />

sich hat, vielmehr an die fünfziger Jahre erinnert, an die Familienbadetage in der aufgestellten<br />

Zinkwanne -der deutsche Spitz.<br />

Die Schlagzeilen, die Kreuzberg nun seit einigen Jahren hergibt, sind symptomatisch für<br />

Berlin. Vorbei sind die Zeiten, <strong>als</strong> die Stadt im Mittelpunkt internationaler Krisen stand;<br />

Hungerblockade der Sowjets 1948/49, der Volksaufstand 1953 in Ostberlin, der Mauerbau aus dem<br />

Jahre 1961. Die sozialliberale Ostpolitik der Regierungen Brandt/Scheel und Schmidt/Genscher<br />

(1969-1982) nahm dem Berliner die seit Jahrzehnten aufgeladene Angespanntheit. - Endzeit-<br />

Stimmungen. Zudem sicherte das Vier-Mächte-Abkommen von 1972 endlich die Bindungen zur<br />

Bundesrepublik ab, das Chruschtschow-Ultimatum war vergilbt, die Stadt hatte nun die lang<br />

ersehnte Ruhe, sich selbst zu finden.<br />

Aber ausgerechnet in dieser Phase, <strong>als</strong> Ost und West einmal übereinstimmten, dass "die<br />

Lage Westberlins seit dem Kriege noch nie so gut gewesen war", schlug die Stimmung schlagartig<br />

um: Schwermut, Lebenspessimismus und Nörgeleien - die Berliner begannen zu säuern.<br />

Exemplarisch eine Zeitungskarikatur: Zwei Alte gehen durch den Wald, er sagt zu ihr: "Findeste<br />

nich ooch, Cläre, selbst det Laub raschelt nicht mehr wie früher."<br />

War ihr Leben nicht erträglicher geworden? Konnten die Berliner nicht jetzt ihre<br />

Verwandten in der DDR besuchen - und das dreißig Tage im Jahr? Oder leiden die Berliner seither<br />

an Selbstwertverlusten, stört sie gar die Langeweile? Etwa so, wie es Cyrus Sulzberger in der "New<br />

York Times" formulierte: "Westberlin, das berühmteste Symbol der westlichen Welt im letzten<br />

Viertel unseres Jahrhunderts und ein Leuchtturm der Freiheit in der geografischen Mitte des<br />

kommunistischen Europas, scheint verurteilt, in der Versenkung der Geschichte zu verschwinden -<br />

und es gibt vermutlich nichts, um das zu verhindern."<br />

Allzu lange vermischten Westberliner Politiker Entspannungsfortschritte mit ihren<br />

Hauptstadt-Sehnsüchten, verwechselten sie den ungehinderten Zugang mit Smoking-Empfängen<br />

im Schloss Bellevue, dem Sitz des Bundespräsidenten. Berlin wollte sich erst gar keine Atempause<br />

gönnen. Alte Botschaftsgebäude, Speers albtraumhafte Architektur, Autoparkplätze und<br />

Gedenktafeln verführten die Stadt zu gigantischen Höhenflügen. Fortan sollte Berlin<br />

• Drehscheibe zwischen Ost und West,<br />

• internationales Luftverkehrskreuz,<br />

• Sitz ständiger Einrichtungen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in<br />

Europa,<br />

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