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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Verwaltung und des KGB bespitzelten und denunzierten sie andere Lagerinsassen, vor allem<br />

politische und religiöse Häftlinge. Dafür wurden sie belohnt. In Psycho-Kliniken, wie hier in<br />

Minsk, genießen sie <strong>als</strong> Krankenwärter im weißen Kittel nun ihren "gesellschaftlichen Aufstieg". Sie<br />

beuten die Kranken aus - auch sexuell.<br />

Wer keinen Besuch bekommt und infolgedessen keine Zigaretten <strong>als</strong> Tauschobjekt<br />

anbieten kann, hat nur eine Chance, sich bei den Wärtern beliebt zu machen: Er muss sich<br />

prostituieren. Je nach Lust und Laune holen sich manche Krankenwärter vor allem jüngere Männer<br />

aus den Zimmern heraus und treiben es mit ihnen in ihren Diensträumen. Wie viele Menschen in<br />

der Sonderklinik von Minsk schon in die Intensivstation gekommen sind, wollte der Direktor mir<br />

nicht sagen. Er gab jedoch zu, die Verpflegung sei so schlecht, dass die Widerstandskräfte der<br />

Patienten sich im Laufe der Zeit auf ein Minimum reduzierten. Die Hauptmahlzeit besteht meist<br />

aus einem Teller Kohlsuppe. Morgens und abends gibt es einen Löffel Hafergrütze, ab und zu eine<br />

kleine Kartoffel mit Gemüse. Die einseitige und mangelhafte Ernährung erreicht niem<strong>als</strong> die<br />

vorgeschriebenen 1.300 Kalorien am Tag. Patienten, die sich beschweren wollen, bekommen weder<br />

Kugelschreiber noch Papier. Denn schon diese Dinge werden in den staatlichen Aufbewahrungsanstalten<br />

wie Minsk <strong>als</strong> Sicherheitsrisiko betrachtet.<br />

Das Innenministerium hat für Psycho-Sonderkliniken eine doppelte Hierarchie, ein<br />

doppeltes Kontrollsystem aufgebaut. Da sind einmal der Chefarzt, die Abteilungsleiter, die<br />

behandelnden Psychiater - alles vom Innenministerium ausgesuchte Mediziner. Und da sind auf<br />

der anderen Seite die Funktionäre des Innenministeriums in Uniform: der Oberverwalter der<br />

Klinik, gleichberechtigt mit dem Chefarzt, der Hausverwalter, die Aufseher. Auf der untersten<br />

Stufe der Leiter steht der Wärter. Seine Vorgesetzten sind die Aufseher, die keinerlei medizinische<br />

Kenntnisse haben. Auf diese Weise wird das Misstrauen geschürt, einer bespitzelt den anderen.<br />

Als ich mich vom Direktor der Sonderklinik in Minsk verabschiedet hatte, fragte ich mich,<br />

warum er mit trotz seines Missmutes so viel erzählte. Vielleicht, um meine Reaktion zu testen.<br />

Vielleicht hatten sie mich in Moskau schon für eine höhere Aufgabe in einer Sonderklinik<br />

vorgesehen. Vielleicht sollte ich sogar Nachfolger des Direktors in Minsk werden. Albträume<br />

plagten mich in dieser Nacht. Ich hatte noch nicht einmal den Mut gehabt, den Direktor nach<br />

"politischen Fällen" zu fragen. Nach meinen Erfahrungswerten kann man annehmen, dass jeder<br />

zehnte Patient in einer Sonderklinik wegen "paranoider Reformideen", wegen "mangelnder<br />

Anpassungsfähigkeit an seine soziale Umgebung", wegen "Überschätzung seiner Person"<br />

eingewiesen wird. Für Minsk heißt das: etwa 30 politische Gefangene, für die Sowjetunion<br />

insgesamt 350. Die Mehrzahl der politischen Häftlinge, wohl an die 10.000 sind in Arbeitslagern<br />

interniert.<br />

Lange Zeit konnte ich mir nicht vorstellen, dass KP-Chef Leonid Breschnew (1964-1982)<br />

in der Außenpolitik für Entspannung sorgte und in der Innenpolitik die Repression verschärfte.<br />

Mein politischer Verstand wurde erst richtig geweckt, <strong>als</strong> ich 1973 selbst eine wichtige Rolle bei der<br />

bewussten Täuschung westlicher Psychiater und Journalisten spielen sollte. - Am 14. Oktober 1973<br />

gegen zwei Uhr nachmittags rief mich mein Chef, Professor Morosow, zu sich ins Büro. Er war<br />

seltsam nervös. "Ich habe gerade einen Anruf aus dem Ministerium bekommen. Morgen müssen<br />

wir deutsche Journalisten im "Serbskij"-Institut herumführen, und wenn die danach fragen, müssen<br />

wir ihnen sogar einige Krankenakten zeigen. Ich brauche dich <strong>als</strong> Übersetzer."<br />

Ich fragte mich, was dieser Sinneswandel im Ministerium zu bedeuten habe. Schon einen<br />

Tag vorher waren der englische Psychiater Dr. Denis Leigh und sein schwedischer Kollege Dr.<br />

Carlo Perres in unserem Institut und hatten anschließend die psychiatrische Klinik in Troizkoje<br />

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