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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Zustandsbeschreibungen dieser Jahre. Marie-Louise, 30 Jahre alt, Heimkind, selbst Mutter von zwei<br />

Söhnen, vom Vater auf den Strich geschickt, <strong>als</strong> sie fünfzehn war, Brandnarben im Gesicht,<br />

Alkoholikerin, ohne Berufsausbildung, vor dem Zuhälter, "Kater Drago" genannt, geflohen, seit<br />

vier Monaten im Heim. Seelischer Zustand: Wechselbäder zwischen Depressionen und<br />

Übertreibungen. Oder Yvonne, 23 Jahre alt, in Algier geboren, mit 18 von einem nordafrikanischen<br />

Zuhälterring nach Marseille verschleppt, suchte mit anderen Frauen aus Tunesien und Marokko<br />

Männer auf Schiffen im Hafen auf. Berufsausbildung: Schneiderin, seit sechs Monaten in Marseille.<br />

Psychischer Befund: Kontaktgestört, spricht nicht. Oder Carla, 18 Jahre alt, aus dem<br />

Erziehungsheim in Toulon wegen Missbrauchs durch Sozialarbeiter geflohen, an der Côte d'Azur<br />

in Hotels zunächst <strong>als</strong> Zimmermädchen, dann <strong>als</strong> Callgirl, Tätowierungen an Beinen <strong>als</strong><br />

Erkennungsmarke, Krankenhausaufenthalt wegen gebrochener Rippen, von der Polizei gebracht,<br />

möchte zu ihrem Zuhälter zurück, seit drei Wochen hier, Analphabetin, Zustand: rebellisch,<br />

Prognose: Rückfall.<br />

Besonders jüngere Frauen betrachten ihren Aufenthalt im Schutzbunker lediglich <strong>als</strong> eine<br />

Zwischenstation, <strong>als</strong> eine Art Erholungspause, bevor sie sich wieder in den Straßen verdingen.<br />

Meist sind sie von der Polizei oder auch von den Sozialämtern gebracht worden. Auffallend hoch<br />

ist die Analphabetenquote unter dem Nutten-Nachwuchs. Laut Aktenauskunft sind 18 Prozent<br />

dieser Frauen des Lebens und Schreibens unkundig.<br />

Die Mehrzahl der misshandelten Frauen ist froh, einen Zufluchtsort gefunden zu haben.<br />

Ein Refugium, in das sie ohne Papiere und ohne Arbeitserlaubnis aufgenommen werden, das ihnen<br />

Schutz bietet - vielleicht auch einen Neuanfang ermöglicht. Ob bei handwerklichen<br />

Gruppenarbeiten, Kochkursen oder auch bei Alphabetisierungsunterricht - fast jeden Abend<br />

kreisen die Gespräche immer wieder um die gleichen Themen: Wie kann ich der Prostitution<br />

entkommen, wie schaffe ich es, mein Auskommen anderweitig zu finden, gelingt es, wieder<br />

Kontakte zu meiner Familie zu finden?<br />

Die Uhr am Eingang des Schutzbunkers zu Marseille zeigt auf Mitternacht. Es klingelt an<br />

der Haustür, eine Frau bittet um Einlass. Die Außenbeleuchtung macht jede Erklärung überflüssig:<br />

Die eine Gesichtshälfte der Frau ist stark angeschwollen. Helferin Danielle, die Nachtdienst hat,<br />

winkt die Frau stumm herein. Als sie im Sanitätsraum feuchte Umschläge zur Schmerzlinderung<br />

vorbereitet, murmelt sie: "Hier ist das Hauptschlachtfeld des Frauenkampfes."<br />

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