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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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gespielt." Oder er erzählte, wie ihm sein großer Bruder Anton mit sechs Jahren die erste Mark<br />

geschenkt hatte. Oder wie er <strong>als</strong> Vierzehnjähriger mit seinem kleinen Fahrrad zum ersten Mal ein<br />

Auto überholte. Harald: "Es war totaler Wahnsinn, das Rad hatte nämlich nur eine Übersetzung<br />

von eins zu eins."<br />

Johannes und Werner hörten aufmerksam zu. Sie ließen Harald Stunden über seine<br />

Kindheit berichten, die er sich <strong>als</strong> ein Stück heile Welt bewahren wollte. Harald entging in seinem<br />

Erzählfluss offenbar, dass er längst bei einem anderen Thema gelandet war. Er sprach nun von<br />

seinem Vater, der noch mit 48 Jahren wöchentlich drei Mark Zigarettengeld von der Mutter<br />

zugeteilt bekam. der sich mit 53 Jahren den ersten Wagen, einen Opel Kadett, leisten konnte. Der<br />

mit seinem Opel-Stolz jährlich aber nur um die 600 Kilometer fuhr, weil ihm das Benzingeld fehlte.<br />

Der trotzdem jeden Samstag, wenn's nicht regnete, wie ein kleiner Bub vor der Haustür sein Auto<br />

wusch und polierte. Und der sich immer darüber erregen konnte, wenn Nachbarn oder<br />

Arbeitskollegen mit ihren neuesten Modellen angeberisch durch de Kleinstadt fuhren.<br />

Inzwischen ist der Alte 66 Jahre, sein Gesicht ist eingefallen und voller Falten. Seit er<br />

pensioniert ist, weiß er mit sich und seiner Umgebung nichts mehr anzufangen. Während seines<br />

ganzen Lebens hat er nur gearbeitet, so zehn bis zwölf Stunden am Tag, aber nie gelernt, selbst<br />

seine Freizeit mit Hobbies spielerisch zu gestalten. So sitzt der halbglatzige Herr meist vorm<br />

Fernseher, döst vor sich hin, weil er für Politik und Show wenig übrig hat. Nur wenn am Samstag<br />

vor der Spätausgabe der Tagesschau zur Ziehung der Lottozahlen umgeschaltet wird, zum<br />

Hessischen Rundfunk, springt er hoch, vergleicht seine drei Tipp-Scheine, um dann wieder<br />

zusammenzusacken. Mutters Errungenschaft, fährt Harald fort, ist die neue Stereoanlage mit<br />

eingebauten Kassettenrecorder. Fünf Jahren haben sie dafür gespart. Beim Kauf nahmen die Eltern<br />

natürlich auch gleich ein paar Platten mit. Außer Rudolf Schock, Heino und die Egerländer<br />

Marschmusik fiel ihnen nichts weiter ein. So steht der Apparat <strong>als</strong> Vorzeigestück in der Wohnstube<br />

und wird kau eingeschaltet, weil sie ja nicht tagein-tagaus dieselben Melodien hören können.<br />

Staub und Flusen wären jedoch auf dem teuren Stück undenkbar. Darauf achtet Mutter<br />

schon. Und dann erinnert sich Harald an die immer wiederkehrende Stereotype seiner Mama:<br />

"Schaffe Harald, schaffe Harald. Mach es so wie die Gaby, die schafft bei Aldi in der<br />

Buchabteilung, oder wie Irene, die zählt das Geld uff die Sparkass". Womit seine ältere Schwestern<br />

gemeint waren. Natürlich haben die es zu etwas gebracht. Mit zwanzig geheiratet, zwei Kinder<br />

bekommen, wieder einen Halbtagsjob angenommen, Geschirrspüler, Gefriertruhe und einen<br />

Gartengrill gekauft. Einmal im Jahr geht's nach Gran Canaria, um dort am Strand Dosenbier zu<br />

trinken. "Die sind ja bekloppt", räsoniert Harald. "Die wissen doch gar nicht mehr, wer sie<br />

eigentlich sind."<br />

Wer er selber ist, weiß Harald auch nicht so genau. Seine Gefühlssprünge, die total<br />

Depressionen, seine Apathie fangen ihn immer wieder ein. Mal ist es die totale Identifikation, mal<br />

die totale Verweigerung, mal will er noch in derselben Nacht abhauen, mal plant er über Jahre in<br />

der Wohngemeinschaft zu bleiben. Die etablierte Erwachsenenwelt mag in diesen Jugendlichen<br />

"verweichlichte Kinder" sehen, die nur deshalb ängstlich und kopflos sind, weil ihnen alles<br />

abgenommen wurde und sie alles vorfinden, was sie scheinbar brauchen. Aber Haralds Stabilität<br />

und die seiner Freunde ist nicht das "soziale Netz" Bundesrepublik - nicht die Lohnfortzahlung im<br />

Krankheitsfall, nicht die Rentenversicherung, kein Bausparvertrag, keine vermögenswirksamen<br />

Leistungen.<br />

Die Wohngemeinschaft in Kreuzberg findet ihr Gleichgewicht vielmehr in der<br />

Negativabgrenzung gegenüber dieser Gesellschaft. Harald und Co. machen sich nichts aus der<br />

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