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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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vor Christus immerfort - unausgesprochener Weise in seiner Mentalität versteht sich. Fernab vom<br />

bürgerlichen Gesetzbuch dieser Tage hatte bei den Germanen der Vater die Straf- und Zuchtgewalt<br />

gegenüber seinen Zöglingen. Er konnte über Leben und Tod willkürlich entscheiden. Er hatte das<br />

Recht, sie nach der Geburt auszusetzen, sie zu verstoßen, zu verknechten, zu verkaufen oder zu<br />

töten. Erst mit Übergang von der Groß- zur Individualfamilie sollte sich das grauvolle<br />

Gewaltverhältnis ändern, lindern, schrieb die einst profilierte Gerichtsmedizinerin Elisabeth Trube-<br />

Becker von der Universität Düsseldorf. Die einzige Grande Dame der deutschen Rechtsmedizin<br />

hatte sich Zeit ihres erfolgreichen Wirkens der wissenschaftlichen Aufklärungsarbeit auf dem<br />

Gebiet der Kindtötungen und - misshandlungen verschrieben. - Lichtblicke.<br />

Nachdem der Junge Gregor wieder zu sich gekommen war, quetschte er sich mit blutigem<br />

Gesicht, aufgeschlagenen Lippen durch eine Kellerluke, flüchtete aus dem Elternhaus. Gregor<br />

rannte durch die halbe Stadt zu seinem Lehrer Edmund Erdmann. Der Junge weinte, redete und<br />

weinte. Doch auch dieser hatte Angst, Prügel zu beziehen. Junglehrer war er, gerade von der<br />

Pädagogischen Hochschule auf die Schulklasse losgelassen. Erdmann brachte seinen Schüler<br />

jedenfalls zum Vater zurück, beschwichtigte den Jungen, bestärkte den Gewalttäter in seinem<br />

"Erziehungsauftrag", ganz nach dem Motto "eine Ohrfeige hat noch niemanden geschadet". Für<br />

ihn war der "Fall Gregor" damit erledigt, "sonst", so der Edmund Erdmann später, "hätte ich wohl<br />

möglich auch noch Kloppe bezogen. Wir sind doch Pädagogen und kein Polizeikommando."<br />

Die Mutter indes wollte ihren Ehemann zur Rede stellen. Auf erregte Fragen bekam<br />

sie Antworten. - Prügel-Antworten. Ihr Mann schlug wieder zu - dieses Mal Frau wie Kind. Sie<br />

kassierte oft Ohrfeigen, ohne Vorgeplänkel, ohne Ansatz, einfach nicht auszumachen wie aus<br />

heiterem Himmel. Sie sagte nichts, schminkte sich. Beim Einkauf auf dem Gemüsemarkt am<br />

kommenden Tag lächelte sie vorsorglich sehr stolz den Weg entlang. Prügel <strong>als</strong> Familien-Geheimis.<br />

Selbstaufgabe. Seine Mutter war es auch, die Gregor Beruhigungsmittel, Schlaftabletten<br />

verabreichte. Denn am nächsten Morgen sollte der Junge ja in der Schulklasse wieder wie gewohnt<br />

mit seinem Finger lebendig schnipsen können. Spalierstehen war stattdessen angesagt, neugieriges<br />

Spalierstehen für einen gepeinigten Zehnjährigen. Kindergewalt, Gelächter auf dem Schulhof,<br />

Gekichere im Klassenzimmer bei solch einem zerdepperten Gesicht. Wo eben der private Sender<br />

"TV-Brutal direkt" auf dem Schulhof drehte, da stand irgendwie plötzlich der kleine zerbeulte<br />

Gregor mit seiner geschundenen Visage im Mittelpunkt.<br />

Szenenwechsel - von der Hafenstadt im Ostfriesischen an den Rand des Teutoburger<br />

Waldes - mit dem Eilzug von Emden-West nach Osnabrück HBF. Im Rahmen der "freiwilligen<br />

Jugendhilfe" war dann doch das Fräulein Pausepohl mit ihrer obligat-akkuraten Knotenfrisur <strong>als</strong><br />

Fürsorgerin in dieser Epoche aktiv geworden, hatte für Gregor kurzerhand in einem evangelischen<br />

Kinder- und Jugendheim ein Plätzchen ergattern können. Heimjahre - das waren keine<br />

Kinderjahre, eher schon Bett- oder auch Sexjahre unter kirchlicher Obhut. Das Gebäude, ein hförmiger<br />

Betonkasten in der Größe eines Fußballplatzes mit 98 Fenstern, lag draußen an der Stadt-<br />

Peripherie, eingezäunt zwischen Wald und Acker. Weit und breit nur Wiesen, Lehmwege; ein<br />

Getto, aus dem es kein Entkommen, kein Abhauen gab. Mit ihrem Fernglas auf dem Balkon hatte<br />

Heimleiterin Gertrude Timmermann das vermeintlich ganze Fluchtareal unter Kontrolle, konnte<br />

blitzschnell wegrennende Jungs wie Karnickel ausmachen, aufscheuchen, mit einem dreimonatigen<br />

Stubenarrest bestrafen. Da hockten die geschlagenen, geschundenen Kinder nun in ihren<br />

eingezäunten Zimmern vom "Haus Neuer Kamp" zu Osnabrück, dem vorzeigbaren, erlesenen<br />

Heimneubau der evangelischen Kirche. Meist erzählten sie sich, wenn sie überhaupt redeten, und<br />

nicht durch die Verabreichung von Tranquilizer ruhig gehalten wurden, dann redeten sie von ihren<br />

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