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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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zugedachte Rolle in der Politik keineswegs f<strong>als</strong>ch. Sie wusste nur zu gut, dass sich "Unabhängigkeit<br />

nicht kaufen lässt". Ihr schwebte deshalb auch kein Frauen-Aufbruch, schon gar kein Frauen-<br />

Durchbruch, keine Autonomie vor. "In Bonn war ich die Trösterin, die die Arme ausbreitete, um<br />

alle vom Kanzler auf den Schlips Getretenen wieder aufzumuntern. Und wenn ich selbst zum<br />

Kanzler musste, brauchte ich immer einen Notizblock und ein Taschentuch zum Weinen."<br />

Doch Marie Schlei musste sich mit Härte <strong>als</strong> Frau durchsetzen. Quasi <strong>als</strong> Selbstschutz<br />

kultivierte sie in ihrer scheinbar klassenbewusst-groben Manier das arrivierte Arbeiter-Mädchen:<br />

"Ick bin dat typisch chancenbehinderte Menschenkind. Mutter war Fabrikarbeeterin, Vater<br />

Klempner. Mensch, ich lass mir doch nicht verscheissern." Das war einer ihrer Standardsätze -<br />

nicht nur am Tresen. Doch hinter ihrem scheinbar burschikosen Selbstbehauptungswillen gab es<br />

Selbstzweifel, lauerte eine sie lähmende Resignation.<br />

Marie Schlei war zumindest gut beraten, den an ihr nagenden Krebs wie ein<br />

"Staatsgeheimnis" zu hüten. Die Ärzte im Berliner Virchow-Krankenhaus hatten sie gewarnt, wenn<br />

sie weiter so besessen arbeite, sei das glatter Selbstmord. Aber auf die Ärzte wollte oder konnte sie<br />

nicht hören. Sie hatte noch die Kraft, um ihrem "Haustier", wie sie den Krebs bezeichnete, einige<br />

Lebensdaten abzutrotzen. Bekannt wurde sie dam<strong>als</strong> in der Öffentlichkeit mit dem Stempel "Mama<br />

Kanzleramt". Marie Schlei erlebte einen ungeahnten Durchbruch. Sie war nämlich in der Lage - wie<br />

ihre Fraktionskollegin Renate Lepsius in ihrem 1987 veröffentlichten Buch "Frauenpolitik <strong>als</strong><br />

Beruf" bemerkte - "mit ihrem Charme und ihren strahlend blauen Augen und ihrer Persönlichkeit,<br />

Menschen zu faszinieren. Sie machte das auch mit einer großen dramaturgischen Darstellungskunst<br />

...". Die Gefühlslage der Nation war bestimmt von der Mutter-Suche. Und in Marie Schlei hatten<br />

sie eine gefunden. Sie wurde mit verheißungsvollen Tönen salonfähig gezeigt, kompetent für alle<br />

Lebensfragen. Sie jagte von Talkshow zu Talkshow, von Interview zu Interview. Die Bonner<br />

Sprechblasen-Kultur bedurfte einer Auffrischung.<br />

Wenige Monate vor ihrem Tod im Sommer 1982 fuhr ich immer wieder nach Berlin-<br />

Reinickendorf, besuchte Marie Schlei in ihrem Fünf-Zimmer-Reihenhaus der<br />

Arbeitergenossenschaft "Freie Scholle" im Allmendeweg 112. Dam<strong>als</strong> konnte ich noch nicht<br />

ahnen, dass ich meine mit Marie Schlei aufgenommenen Tonband-Protokolle erst Jahre später<br />

veröffentlichen sollte. Ich hatte zu jener Zeit auch keine Mutmaßung darüber, dass es in diesem<br />

Land des neunziger Jahrzehnts zu einem Frauen-Aufbruch kommen würde. Wie sollte ich auch.<br />

Mich interessierte das Schicksal einer Frau, die in Bonn, zuletzt <strong>als</strong> Entwicklungshilfeministerin,<br />

verheizt, ein Opfer der Intrige geworden war. Ich wollte hören und sehen, wie Marie Schlei den<br />

Kalten Krieg der Männer verarbeitet hatte.<br />

Ein kraftzehrendes Leben intensiv erfahrener deutscher Widersprüchlichkeiten lag hinter<br />

ihr. Ihre einst hell-wachen blauen Augen hatten sich längst zu Sehschlitzen verengt, ihre Wangen<br />

waren eingefallen, ihre Lippen waren rissig, auf der Stirn perlte Schweiß. Wehmut, die sie zu<br />

verbergen suchte, Trauer und Verzagtheit. Sie hatte ihr Gegenüber geortet - den Tod.<br />

Als ich mich von Marie Schlei verabschiedete, klingelte es an ihrer Tür. Reporter baten um<br />

Einlass. "Mein Kampf mit dem Krebs" hieß ihr Bericht über Marie Schlei. Fotos von der<br />

todkranken Frau wollten sie "möglichst hautnah" schießen.<br />

Erst ihren politischen Aufstieg <strong>als</strong> "Mama Kanzleramt", dann ihren Rausschmiss aus dem<br />

Kabinett, nun der Einbruch in die Privatsphäre mit ihren nahenden Krebstod: mit illustrer<br />

Gründlichkeit gnadenlos vorgeführt, umschmeichelt - vermarktet.<br />

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