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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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MONSIEUR MAIGRET IST EINE FRAU IN PARIS<br />

Frankreich verfügt über die meisten Sicherheitskräfte in Europa. Doch<br />

Polizistinnen wie Polizisten haben das Gefühl, von der Bevölkerung verachtet zu werden.<br />

Pistole in der Tasche - Stimmung auf Halbmast, Übergriffe auf Revieren, hohe<br />

Selbstmord- und Scheidungsraten, schlechte Moral, schlechte Arbeitsbedingungen,<br />

schlechte Bezahlung - Überstunden. Jeder zweite Franzose hält die "femmes-flics nicht für<br />

richtige Frauen.<br />

Frankfurter Rundschau 7. September 1996<br />

Im Untergeschoss, einem früheren Kohlenkeller, befinden sich die Privatquartiere des<br />

Polizei-Reviers von Montbéliard: einem 35.000 Einwohner zählenden Städtchens nahe der<br />

Schweizer Grenze, etwa 80 Kilometer von Basel entfernt. Das Souterrain, auch "U-Boot" genannt,<br />

ist sehr gut besucht von den 170 Ordnungshütern und zehn Polizistinnen, die hier täglich ihrem<br />

Dienst nachgehen. Fensterlos reihen sich Kantine neben Umkleideraum aneinander.<br />

Wie vielerorts in Frankreich wagt es auch in Montbéliard kein Ordnungshüter mehr, seine<br />

Uniform außer der Dienstzeit - etwa auf dem Heimweg - zu tragen. Der Polizeistatus schützt die<br />

Beamten keineswegs vor Aggressionen. Folglich herrscht vor den Spinden auf kleinstem Raum<br />

Hochbetrieb. Hauptwachtmeisterin Simone Cuvelier, 32, sagt: "Wir haben schon recht lange das<br />

Gefühl, bei der Bevölkerung unbeliebt zu sein und von staatlichen Institutionen verachtet zu<br />

werden." Ganz nach dem Überlebensmuster, Pistole in der Tasche, Stimmung auf Halbmast,<br />

versucht jeder, schnell in eine beliebtere, zivile Rolle zu schlüpfen - "nur raus aus den Polizei-<br />

Klamotten".<br />

Dafür sind um den großen Tisch in der Kantine die Sandwiches üppig, da das Essen hier<br />

sehr preiswert ist. Muss doch ein junger Polizist monatlich mit circa 1.230 Euro auskommen.<br />

Gebrutzelt wird hier rund um die Uhr. Koch Laurent, ein Muskelprotz mit Schürze, unterhält sich<br />

mit seiner Kollegin Hauptkommissarin Marie-Julia Aranda über die französischen Geiseln, die in<br />

Algerien entführt worden sind. "Wenn sie ermordet wären", erklärt der Küchenchef, "hätten wir<br />

zum Maschinengewehr gegriffen und wären auf die in Barbès losgesprungen." (Barbès ist ein<br />

Ausländerviertel in Paris und gilt <strong>als</strong> Synonym für Überfremdung.) Kommissarin Maria-Julia<br />

erwidert kühl: "Wenn alle gescheitert sind, die Politiker, die Arbeitgeber, die Erzieher, die Eltern,<br />

dann bricht alles auf uns ein." Und sie fragt: "Aber was können wir eigentlich tun gegenüber<br />

diesem Scheißhaufen an Elend?<br />

Mit der Maschinenpistole herumzufuchteln, das ist keine Lösung. Doch<br />

Sozialarbeiterinnen sind wir schließlich auch nicht." Kollegin Jacqueline, die zuhört, erhärtet die<br />

Identitätskrise der französischen Polizei. Sie bemerkt: "In einer zunehmend regelloseren<br />

Gesellschaft werden wir <strong>als</strong> Ordnungskräfte für nahezu alles verantwortlich gemacht, und unser<br />

Ruf rutscht in den Keller. Dabei ist die Situation so erstarrt, dass es keinen Sinn macht, Fleiß oder<br />

sogar Verständnis zu zeigen. Vorbeugung, Abschreckung durch Anwesenheit. Dass ich nicht lache.<br />

Angst haben wir."<br />

Unerwartet, geradezu über Nacht, erfahren alte Fragen des Polizisten-Selbstverständnisses<br />

in Montbéliard und anderswo in der französischen Republik eine verschärfte Aktualität - auch <strong>als</strong><br />

"Polizei-Krise" gebrandmarkt. Ob Jacqueline Simone oder Marie-Julia - gemeinsam mit 15.000<br />

Kollegen machten sie sich in Sonderzügen zur Demonstration gen Paris auf. Auf ihren<br />

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