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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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wo Schulen fern sind und der Arbeitstag keine acht Stunden zählt. - Kinderarbeit im Jahr<br />

Zweitausend.<br />

Kritiker westlicher Entwicklungshilfe in den sechziger Jahren führten Armut und<br />

Analphabeten-Dasein auf eine neue Form des Kolonialismus zurück. Ursache wie Auslöser für<br />

diese Dritte-Welt-Misere waren immer wieder mangelnde Effektivität von Wirtschaftsabläufen der<br />

Dritten Welt auf den internationalen Märkten. Und hinter dem Terminus "mangelnde Effektivität"<br />

verbarg sich ein altes Manko unter neuem Namen - nunmehr keine Ausbeutung für eine fremde<br />

Nation, sondern Abschöpfung der Werte im Namen des weltweit gewebten Kapit<strong>als</strong>. Ursache für<br />

den Kapitalexport war schon in den sechziger Jahren ein Absinken der durchschnittlichen<br />

Profitraten in den hoch industrialisierten Mutterländern. Koloniale Extraprofite waren gefragter<br />

denn je.<br />

Wochen um Wochen war ich mit jungen Leuten in Algerien unterwegs - von Algier nach<br />

Oran, von Sidi bel Abbès nach Constantine, durch Wüsten, Steppen, Stein- und Felssteppen vorbei<br />

an Oasen, hinein in entlegene winzige , scheinbar ganz vergessene Orte bis hin nach Tindouf in der<br />

östlich gelegenen Sahara, wo annähernd 45.000 Menschen ihr Dasein eingerichtet haben. Eigenartig<br />

gerade hier in Tindouf, wo auch die Exilregierung der nach Unabhängigkeit strebenden<br />

Demokratischen Arabischen Republik Sahara ihren Sitz hat, diesem Gott verlassenen Tindouf<br />

fühlte ich mich an Isabelle Eberhardt Testpassage erinnert. Sie schrieb: "Der Tag brach im<br />

unendlich zarten, über die Dünen gleitenden Licht der Morgenröte an. Die Luft ist noch rein und<br />

klar, in den Oasen flüstert eine frische Brise sanft im dichten, störrischen Blätterwerk der Palmen.<br />

Der einzigartige Zauber dieser unvergesslichen Augenblicke inmitten des tiefen Friedens der Wüste<br />

lässt sich nicht in Worte fassen. Wer nie in der Wüste erwacht ist, hat keine Ahnung davon von der<br />

unvergleichlichen irdischen Schönheit der frühen Morgenstunden ...“<br />

"Wir müssen einen neuen Menschen auf die Beine stellen", schrieb der Psychiater und<br />

Vordenker der Entkolonialisierung Frantz Fanon <strong>als</strong> Hinterlassenschaft für seine algerischen<br />

Weggefährten, ehe er ein Jahr vor der Befreiung Algeriens in Washington an Krebs starb. Nur wie<br />

und mit wem? Ich traf auf einst junge Revolutionäre, die im Nu ihre Panzerspähwagen mit<br />

blankgewienerten Staatskarossen inklusive Fahrer vertauschten. Genugtuung vieler Orte. Junge<br />

Menschen, die vom Umbruch träumten, redeten - sich aber zugleich in feudalen Villen, mit Stuck<br />

verkleideten Decken, Kamin, Parkett, drei Meter hohen Fensterfassaden <strong>als</strong> "neue Herren"<br />

einrichteten; mit einem untertänigen Dienstpersonal, für das ein Fingerschnipsen <strong>als</strong> Kommando<br />

für eine Bestellung ausreichte. Beinahe so, <strong>als</strong> sei der Wiederholungszwang eine ausweglose<br />

Gesetzmäßigkeit. Eine Jugend, die nach außen hin kein eigenes Erleben, keine eigene<br />

Wahrnehmung, keine Generationskonflikte benennen durfte - nur jene Litaneien, stereotypen<br />

Floskeln ihrer scheinbar übergroßen Väter von sich zu geben verstand.<br />

Hamid, ein sympathisch-offener Typ von mal gerade 22 Jahren, hat in Algier seine Eltern<br />

verloren, die Parteijugend wurde zu seiner Heimstatt - Ersatz-Heimat. Er hatte gerade in der Villa<br />

seiner FLN-Garde ein Glas Rouge in den Konferenzsaal serviert bekommen, da verkündet er<br />

maßstabsgetreu: "Die Erfahrung der Revolution hat gezeigt, dass es nur eine Partei geben darf, um<br />

eine geschlossene Masse herzustellen. Konflikte und Meinungsverschiedenheiten kann es gar nicht<br />

geben, weil es das oberste Ziel ist, die Revolution auf wirtschaftlicher und bildungspolitischer<br />

Ebene zu verwirklichen", hat Hamid verkündet. Punktum. Die Revolution hat Algeriens Kinder in<br />

Villen und Supermärkte entlassen. Der Weg in den Pfründestaat <strong>als</strong> Selbstbedienungsladen<br />

politischer Klassen war vorgezeichnet. Die Chance, die Frantz Fanon in diesem neuen Algerien<br />

sah, aus den Fehlern Europas zu lernen, versickerte im Wüstensand.<br />

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