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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Dass der Brunnen der Gesprächs- und Klatsch-Knotenpunkt des Dorfes war, ist kaum<br />

verwunderlich. Der Bürgermeister meint: "Vom Brunnen waren wir allesamt abhängig, und die<br />

Familien handelten solidarisch." - Wendezeiten. Nunmehr mit Wasser verlagerte sich das<br />

Dorfgeschehen immer mehr in die Küche des Bürgermeisters und seiner Frau Henriette. Hier<br />

kommen die Bauern mit ihren Landfrauen hin, um zu reden und zu klagen - bei gutem Wein.<br />

In der Tat sieht die viel besprochene Gemütslage des Dorfes alles andere <strong>als</strong><br />

hoffnungsvoll aus. Trotz zigfacher Heiratsinserate - regional wie national - will es beispielsweise<br />

dem relativ gutgehenden Landwirt Jean-Luc mit seinen 38 Jahren nicht gelingen, eine Frau zu<br />

finden - über eine Nacht hinaus an sich zu binden; Monat für Monat, Jahr für Jahr ist der Bauer auf<br />

der Suche. Routinegeübt füllt er wieder im Tabakladen einen neuen Lottoschein aus, bringt Frau-<br />

Suchanzeigen zur gegenüberliegenden Post im Tal. Nach dem fünften Pastis murmelt er: "Was wir<br />

hier machen an diesem schönen Fleck, ist die gemeinsam erlebte Einsamkeit." Ein Flug nach Polen<br />

in die Masuren sollte die beschworene Frauen-Wende, den allseits erhofften Durchbruch bringen -<br />

Jean-Luc auf Brautschau in Olsztyn. Junge Polinnen werden ihm vorgeführt. Jean-Luc bezahlt für<br />

eine Nacht, für die nächste Nacht. Jean-Luc versteht nur Bahnhof, Sprachprobleme. Viel Wodka,<br />

große Geldausgaben, Vermittlungsgebühr, Flug, Hotel. Nur ein anschmiegsames junges Masuren-<br />

Mädchen für Seillonnaz im französischen Alpenvorland - Fehlanzeige.<br />

Vis-á-vis von ihm wohnt Pascal mutterseelenallein in einem Zwölf-Zimmer-Haus. Als<br />

Bankangestellter dort unten im Tal hoffte er auf Aufstieg und Anerkennung. Jahre vergehen,<br />

Jahrzehnte verfliegen im Nu - Pascal steht immer noch akkurat am Schalter mit eingefrorenem<br />

Dauerlächeln. Nichts, so scheint es, will sich bewegen, weil er offenkundig vergessen hatte, ein<br />

bisschen länger zur Schule zu gehen, sich im Bankfach weiter ausbilden zu lassen. Stillstand bei der<br />

all wöchentlichen Chrom-Versiegelung. Nur seine junge Frau Monique hatte sich bewegt, zog es<br />

plötzlich ganz unvermittelt in die Stadt. Sie könne doch nicht ihr ganze Leben lang auf den Alpen<br />

starren. Sie könne doch nicht ewig ihr Dasein damit verbringen, ihrem Mann bei seiner liebevollen<br />

Autopolitur zuzuschauen -und das Samstag für Sonnabend immerfort in Seillonnaz im<br />

Alpenvorland. Das soll Monique ihrem Pascal zum Abschied gesagt haben. Abgang. Frauen-<br />

Aufbruch. Seither stottert sich Pascal auf Suche nach neuem Glück durch Gassen und Boulevards.<br />

Aber imgrunde, beschwichtigt Pascal, benötige er auch dríngend keine neue Frau. Seine Mutter<br />

Ramona umhebt ihn ohne Unterlass, bekocht ihn, putzt im Haus und bügelt seine Krawatten. Und<br />

wenn Pascal wieder auf die Autopolitur-Tube drückt, dann steht nicht selten Mutter Romana ganz<br />

in der Nähe, lächelt warmherzig, verständnisvoll. Mutteridylle in Seillonnaz.<br />

Und am Berghang lebt schließlich noch der Lehrer Michel. Auch er ist in seiner Freizeit<br />

Bauer, Kuh- und Weinbauer. Seit über einem Jahr lebt Michel mit seiner Tochter Sandra und ihrem<br />

Hund Rock allein. Fluchtigartig - wie offenkundig gezielt in Dörfern - hatte auch seine Frau<br />

Isabelle ihren Michel verlassen. Sie habe es einfach satt mit anzusehen, wie Gatte Michel <strong>als</strong> kleiner<br />

Bauer so leidenschaftlich-besessen im Schlamm herum wurschtelt, sonst für nichts Zeit hat und<br />

noch immer keine schwarzen Zahlen schreibt. Gemeinsam erlebte Einsamkeit der Männer.<br />

Hin und wieder - meist zu Abend - treffen sich die verbliebenen Landfrauen bei Henriette<br />

in der Küche. Nach den jüngsten EU-Beschlüssen und neuerlichen Frauenflucht aus dem Dorf<br />

kennen sie nur noch ein Thema. Sie wissen nicht, wie es tatsächlich weitergehen soll, wer überlebt<br />

und wer untergeht. Und sie haben Angst vor dem Ausverkauf ihres Dorfes Seillonnaz. Mahnend<br />

zeigen sie in Richtung der Region Ardèche - dort, wo sich der deutsche Jet-Set eingekauft, die<br />

Preise gedrückt habe. "Nein, das wollen wir hier nicht erleben. Da mögen die Schecks noch so<br />

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