07.02.2013 Aufrufe

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

"dieses größte Kaffeehaus Europas", auf dem einst Schreiber und Genies, Mätressen und Gigolos,<br />

Zuhälter und Zocker einträchtig an den Tischen hockten. Nicht zu vergessen, "Zille sein Milljöh",<br />

der die bittere Armut und Trostlosigkeit Berliner Arbeiter porträtierte. Bilder, die gegenwärtig<br />

Hochkonjunktur haben. Ließ´sich doch die soziale Misere von dam<strong>als</strong> heute auf die idyllische<br />

Popo-Klitsche auf dem Hinterhof reduzieren.<br />

Keine westdeutsche Großstadt poliert derart an ihrer Außenwirkung wie Berlin. Mit 48<br />

Millionen Mark verfügt der Senat über den "welthöchsten Werbeetat" in nur einer<br />

Legislaturperiode. Beinahe so, <strong>als</strong> könne das verlorene Wichtigkeitsgefühl einer Hauptstadt mit PR-<br />

Aktionen kompensiert werden, <strong>als</strong> könnten Millionen-Spritzen aus dem Bonner Bundesetat jene<br />

Langzeitfolgen des Zweiten Weltkrieges ungeschehen machen.<br />

Besucher, die die Stadt abgrasen, spüren kaum etwas von ihren tiefen Identitätskrisen.<br />

Gibt es doch die wachgeküsste Kulturszene aus Philharmonie, Deutsche Oper, Galerien,<br />

Bücherstuben, ulkigen Kneipen ohne Polizeistunde. Rockt und jazzt es im "Folkpub" oder im<br />

"Riverboat" nicht etwa in allen Stilrichtungen von 1900 bis zum Jahre 2020? Leben die Rockstars<br />

Nina Hagen, David Bowie oder Iggy Pop nicht etwa in Berlin? Und dieser viel geschmähte<br />

Kudamm. Ist er etwa menschenleer oder blutarm? Gut, aus einer Bummelallee wurde ein<br />

Rummelplatz; ein Bouletten-Boulevard, eine Pommes-frites-und-Curry-Wurst-Chaussee; flankiert<br />

von Pornoschuppen und Peepshows, Rue de Kiez mit vielen winzigen Straßenkläffern, Strichern<br />

samt Laufkundschaft; eben viel Plastik, viel Reklame. Aber was will das schon besagen, war der<br />

Kudamm doch in Wirklichkeit immer eine eigenwillige Collage - ein bisschen Hamburger<br />

Jungfernstieg, ein bisschen St.-Pauli-Reeperbahn. Menschentrauben strömen hier Tag für Tag auf<br />

und ab. Geschäftsleute aus West-Europa, Asien und Nordamerika, Schulklassen,<br />

Reisegesellschaften, kaum eine Fremdsprache, die der Ku'damm nicht kennt. Meist sind die<br />

vorgeschobenen Café-Veranden voll besetzt, weitere Hotels, natürlich in Zoo nähe, sollen<br />

hochgezogen werden, bis 1985 sind 3.000 neue Zimmer fest eingeplant, damit noch mehr<br />

Touristen allabendlich im "Alt-Berliner-Biersalon" der hessischen Sechsmannkapelle ein Umtata<br />

zuhören können. Dort, wo das Wachstum und seine Gedanken daran offenkundig grenzenlos ist -<br />

dort ist Berlin.<br />

Die Spree-Metropole der achtziger Jahre - tatsächlich zieht sich nicht nur die eine Mauer<br />

durch die Stadt. Vielmehr sind es zwei, vielleicht auch drei, die letzteren unsichtbar. Sie<br />

zerschneiden diese 848 Quadratmeter große Fläche. Etwa so, wie es der frühere Chefredakteur der<br />

Berliner "Abend", Jürgen Engert, einmal beschrieb: "Hier in Berlin können Sie ein Bankräuber in<br />

Neukölln sein, Transvestit in Charlottenburg, Regierungsrat in Schöneberg und Industrieller in<br />

Wilmersdorf - in diesem Mixt um Kompositum beißt sich nichts."<br />

Dem Touristen zwischen Kudamm und Zoo, zwischen Savigny- und Stuttgarter Platz<br />

indes bleibt der Zugang zum labilen und komplizierten Berliner Innenleben versperrt. Zu sehr<br />

klebt er an den ihm vorgesetzten Abziehbildern der zwanziger Jahre; einem eingeimpften und<br />

herbeigeredeten Mythos, der schon über vielerlei Selbstzweifel hinweghalf.<br />

Aber all dies erspart manchem Besucher jene lästige Identifikationskrise, von der sich die<br />

Mehrzahl der Westberliner bisher nicht zu befreien vermochte. Die Stadt, zugeschnitten auf die<br />

Funktion einer Metropole, ist in Wirklichkeit nur ein Rumpf, der sein Umland verlor. Bürger<br />

zwischen Abriss und Kulisse. Grüne Villenvororte des Westens - ein Stück verblasster bürgerlicher<br />

Selbstdarstellung aus der Wilhelminischen Epoche. Im Osten abbruchreife Mietskasernen ohne<br />

Bad und Klo. Im Norden Neubauten, die sich zum Märkischen Viertel und zur Gropiusstadt<br />

zusammenschlossen. Fenster wie symmetrisch aneinandergereihte Schiffsluken, Grünflächen nach<br />

371

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!