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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Und wenn um 16.30 Uhr im mecklenburgischen Kühlungsborn die Dampf-Eisenbahn mit<br />

urlaubsreifen Werktätigen einläuft, herrscht im kleinen Bahnhof nicht nur Vorfreude auf den<br />

Badestrand. Dies ist auch die Stunde des Genossen Günther Witt vom Freien Deutschen<br />

Gewerkschaftsbund (FDGB), der nichts dem Zufall überlassen darf. Freizeit und Urlaub sind<br />

nämlich eingebunden in die anspruchsvolle DDR-Zielsetzung, eine sozialistische<br />

Kulturgesesellschaft zu bauen. Folglich obliegt es der Einheitsgewerkschaft, <strong>als</strong> Reisebüro und<br />

Quartiermacher zu fungieren.<br />

FDGB-Bezirksleiter Günther Witt, der während der Nazi-Zeit in dem renommierten<br />

Badeort kellnerte, inzwischen den Dr. oec. (Thema: Tourismus) erwarb, ist stolz darauf, Familien<br />

der Arbeitsbrigaden in historischen Villen nächtigen und neuerbauten Heimen unterbringen zu<br />

können. Heute erholen sich 2,4 Millionen DDR-Bürger und Bürgerinnen an der roten Ostsee. 1938<br />

gab es hier nur 400.000 Urlauber - meist betuchte Privilegierte. Damit wurden praktisch drei Viertel<br />

aller Erholungsplätze durch den Staat und seine Betriebe vergeben. Mitte der achtziger Jahre sollte<br />

die DDR mit insgesamt 137.000 Betten und 1,9 Millionen Feriengästen ihre Höchstzahl erreichen.<br />

Den Platz an der Sonne bestimmt dafür jetzt der FDGB, der für den Ferienservice 300<br />

Millionen Mark jährlich aus dem Staatshaushalt zubuttert. Mit dem staatlichen Urlaubsgeld wird<br />

zum Beispiel dem Arbeiter Harald Engelhartt vom Ernst-Grube-Werk in Werdau der Ostsee-<br />

Urlaub erst möglich gemacht. In Kühlungsborn bewohnt der 35jährige Anlageführer mit Frau<br />

Hannelore, den Kindern Jens, 7, Silke , 6 , und Hanka, 5, zwei Zimmer im Ernst-Grube-Heim,<br />

einem komfortablen Neubau.<br />

Den Ferienscheck - Gutscheine für Reise, Haus und Verpflegung, nur der Strandkorb<br />

kostet extra 15,20 Mark für 13 Tage - bekam Vater Engelhartt bereits sechs Monate vor<br />

Urlaubsantritt. Vorausgegangen waren Diskussionen im FDGB-Werkskolletiv, das letztlich darüber<br />

entscheidet, welcher Genosse wo seine Ferien verbringen darf. "Wir müssen <strong>als</strong> Arbeiterklasse die<br />

attraktiven Plätze nach sozialen Gesichtspunkten vergeben", erklärt umsichtig Funktionär Günther<br />

Witt. Dieser Meinung schließt sich FDGB-Mitglied Engelhartt an. Seit seiner Heirat vor acht<br />

Jahren macht die Familie zum ersten Mal Ferien am Meer. Ohne FDGB-Mitgliedsbuch bliebe für<br />

die Engelhartts Urlaub an der Küste weiterhin Illusion. So ist Engelhartt recht "froh, in der<br />

Gewerkschaft organisiert zu sein." Denn dem FDGB gehören außer den Interhotels fast sämtliche<br />

Quartiere an der Ostsee (986.000 Betten).<br />

Aber irgendwie kann Vater Engelhartt seine Ernüchterung kaum verbergen. Vielleicht<br />

haben sich in all den Jahren des Ausharrens auf einen lang ersehnten Ferienplatz zusehends die<br />

Erwartungen nach oben geschraubt. Auffallend leise gesteht er, "das Essen ist mies, die Zimmer<br />

bescheiden, Bad auf dem Flur, nur ein Fernseher im Aufenthaltsraum. Bohnenkaffee dürfen wir<br />

nur zum Frühstück schlürfen gegen Aufpreis natürlich. Der Muckefuck schmeckt plürrig, drei<br />

Scheiben fettklumpige Wurst gibt's zum Abendessen auf Zuteilung; Sülzwurst, Griebenwurst und<br />

so 'ne dunkle, fettige, fast ohne Fleisch." Immer, wenn die Kellnerin laut krachend die Pendeltür<br />

mit einem Fußtritt aufstößt und neue Aufschnittplatten in den Saal hineinträgt, stürzt sich die<br />

gesamte Urlauberschaft wie eine Meute aufs Tablett. Die Jagd nach dem besonderen Häppchen<br />

hatte begonnen. Und das Tag für Tag, Abend für Abend. "Aber", bedeutet Harald Engelharrt, " wir<br />

sind doch glücklich, einen so günstigen FDGB-Ferienplatz ergattert zu haben. "<br />

Die wenigen verbliebenen Privatpensionen sollen künftig noch gezielter <strong>als</strong> bisher ihre<br />

Plätze dem FDGB überlassen. Schon heute vermittelt die Gewerkschaft von den 17 Millionen<br />

DDR-Bürgern jeden Dritten zu relativ günstigen Preisen in die Erholung. - Die Gewerkschaft <strong>als</strong><br />

Reisebüro mit obligaten Gesinnungs-TÜV. Familie Engelhartt - die Eheleute verdienen monatlich<br />

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