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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Kaffee, Marmelade, ganz 658 Liter Speiseöl und sogar sechs Dutzende Sardinen-Dosen, die<br />

Verwalterin Annie schon in den Herbsttagen in verschließ- bare Regale oder Kühltruhen<br />

einzuräumen hat - <strong>als</strong> "stille Reserve" für hungernde Mitbürger in harten Wintertagen sozusagen.<br />

An diesem Nachmittag verlieren sich die Blicke der beiden immer wieder im Weitwinkel-<br />

Panorama der gegenüberliegenden Straßenseite. - Dort, wo Wohnungslose, Bettler und neuerdings<br />

auffallend häufiger Frauen in Kellerabgängen oder auf schmutzüberzogenen Rinnsteinen dösend<br />

auf irgendeine x-beliebige 2-Euro-Brothappen samt Rotwein-Schlückchen warten.<br />

Die Ausgeschlossenen von Le Chambon Feugerolles sitzen unfreiwillig Kulisse für eine<br />

bizarre, schon Kino reife Wirklichkeit, die so manche überzeichneten Karikaturen längst zu<br />

übertreffen vermag. Sie hocken vor einem wandhohen Katzen-Plakat. "Können die Katzen wählen,<br />

so würden sie Whiskas kaufen" (Si les chats pouvaient choisir, ils achèteraient Whiskas), lautet jene<br />

großflächtige Werbebotschaft an diesem bebilderten Plakatgemäuer auf dem Boulevard de Gaulle.<br />

Und Annie Bonnard fragt: "Nur Katzen, nur für die? - Nein, ich habe es erlebt. So manche alte<br />

Frau ernährt sich heimlich von Kitekat. Schon Whiskas ist zu teuer."<br />

Vielleicht deshalb weiß Annie Bonnard <strong>als</strong> betroffene Zeitchronistin der<br />

Ausgeschlossenen ("Les exclus") dieser Epoche aus Le Chambon Feugerolles zu berichten: "Wer<br />

wie ich lange genug aus dem Fenster starrt, auf der Suche nach Gesichtern und Gestalten, die ich<br />

seit Jahren beobachtet habe, der ist unweigerlich ein Zeuge des Übergangs dieser Stadt zum<br />

Armenhaus der reichen französischen Republik. Und wir Frauen werden die Verliererinnen sein.<br />

Dieses Land hat seine Balance verloren. Eindeutig."<br />

Seit zehn Jahren ist Madame Annie ohne feste Anstellung. Als Näherin hatte sie sich in<br />

einer Textilfabrik ihren Lebensunterhalt verdient. Das Unternehmen machte pleite. Ihr Mann<br />

Jacques ließ sie mit drei Töchtern allein zurück. Erst gab es für sie den Alleinerziehenden-Zuschuss<br />

des Staates in Höhe von 840 Euro monatlich - und das zehn Jahre lang.<br />

Seit 1989 lebt Annie mit ihren Töchtern von der Sozialhilfe, in Frankreich kurz RMI -<br />

Revenu minimun d'insertion -genannt. Ganze 670 Euro bekommt sie monatlich für vier Personen.<br />

Pro Tag sind es etwa 22 Euro -ein Baguette kostet nahezu ein Euro, manchmal auch ein bisschen<br />

weniger.<br />

Wie Annie richteten sich in Frankreich nach einer Untersuchung des Pariser Centre<br />

d'hébergement et de réadaption (Zentrum für Wiedereingliederung) insge- samt 2.5 Millionen<br />

Frauen auf ein Leben mit dem staatlich genehmigten Existenzminimum ein - derzeit 380 Euro.<br />

Immerhin: Zwölf Millionen der insgesamt 57 Millionen Französinnen und Franzosen<br />

hängen in irgendeiner Form von staatlichen Überlebenszuschüssen (Mindestrente,<br />

Mindesteinkommen, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe) ab. Fünf Millionen müssen weniger <strong>als</strong> mit dem<br />

Existenzminimum von derzeit 380 Euro auskommen. Vom Arbeitsplatzverlust bis zur letzten<br />

Existenzsicherung - der Sozialhilfe -dauert es im Durchschnitt kaum länger <strong>als</strong> zwei Jahre. Über 3,3<br />

Millionen Menschen sind auf der Suche nach dauerhaften Jobs. Über 2,4 Millionen Arbeitsplätze<br />

subventioniert der französische Staat aus seinem Budget. Über eine halbe Millionen Frauen ziehen<br />

in ihrer Eigenschaft <strong>als</strong> SDF "Sans domicile fixe" (ohne festen Wohnsitz) von Flussbrücke zu<br />

Flussbrücke; etwa von der Seine, über die Saône und Rhône bis zur Loire. Die einst kulissenreife<br />

Clochard-Romantik wird in Frankreich zwar immer noch weinbeseelt besungen - allerdings längst<br />

nicht mehr an den sperrigen Schauplätzen, sondern nostalgisch verklärt an den Kino-Bars der<br />

Filmpaläste des Bürgertums.<br />

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