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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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mächtigen Bonzen vom Innenministerium unterstehen. Und die sind Spezialisten, wenn es darum<br />

geht, Leute aus dem Verkehr zu ziehen und von der Umwelt zu isolieren.<br />

Ich kann mir bis heute nicht erklären, warum gerade mir die Gelegenheit gegeben wurde,<br />

die psychiatrische Sonderklinik in Minsk besuchen zu dürfen. Jedenfalls rief mich während einer<br />

Inspektionsreise durch Weißrussland eines Abends der Direktor der Minsker Sonderklinik an und<br />

lud mich für den nächsten Morgen ein.<br />

Es war im November 1973. Morgens gegen 10 Uhr holte mich ein schwarzer Moskwitsch<br />

vom Hotel ab, ein Chauffeur brachte mich in die Stadtmitte zum Untersuchungsgefängnis, auf<br />

dessen Gelände sich die Sonderklinik befindet. Der Lagerkomplex war unüberschaubar. Eine vier<br />

Meter hohe Backsteinmauer, zwischen zwei Wachtürmen ein Tor. Über der Einfahrt, für jeden<br />

unübersehbar, stand in riesigen Lettern der Glaubenssatz der Klinik geschrieben: "Obratno na<br />

swobodu s tschistoi sowestju" -Zurück in die Freiheit nur mit reinem Gewissen.<br />

Ausweiskontrolle am schweren Stahlschiebetor. Zwei Soldaten, Kalaschnikows auf dem<br />

Rücken. Scharfe Schäferhunde, die an ihrer Laufleine zerrten. Wagendurchsuchung,<br />

Leibesvisitation. Der Moskwitsch hielt auf einem lehmigen Vorhof. Am Haupteingang wartete<br />

schon ein Direktor, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere. Er war ein älterer Arzt, 60<br />

Jahre etwa, mit einem rötlich runden Gesicht. Er leitete die Sonderklinik seit zwei Jahren - ohne<br />

vorher psychiatrische Erfahrung gesammelt zu haben. Er war Hautarzt, hatte sich frühzeitig um die<br />

Partei verdient gemacht und durfte sich hier am Ende seiner Laufbahn <strong>als</strong> Direktor noch seine<br />

Pension aufbessern.<br />

Auf dem ersten Flur, den wir passieren, hing ein gerahmter Spruch an der grauen<br />

Kalkwand: "Trud - uniwersalnoje sredstwon narodnogo wospitanija" - Arbeit ist ein universelles<br />

Mittel zur Erziehung des Volkes. - Das erste Krankenzimmer, das ich zu sehen kriegte, war ein<br />

ziemlich verrottetes Loch. In dem 16 Quadratmeter kleinen Raum waren acht Betten<br />

zusammengepfercht, je zwei übereinander. Aber nicht jeder Kranke hatte seine eigene Liege. Einige<br />

kauerten auf den Ritzen zwischen den Bettkanten. Die meisten lagen völlig phlegmatisch da,<br />

vollgepumpt mit Psychopharmaka, die Gesichter leer und ausdrucklos. Ein Jugendlicher, dessen<br />

bekleckerter Anstaltspyjama keine Knöpfe mehr hatte, machte sich gleich an den Wärter ran. "Ich<br />

hab' noch Tabak", flüsterte er. "Du kannst ihn haben, wenn du mich aufs Klo lässt." Der Wärter<br />

schlug wortlos die Tür zu.<br />

Vom Direktor erfuhr ich später, dass es in der psychiatrischen Sonderklinik Minsk ein<br />

Privileg ist, aufs Klo gehen zu dürfen. Denn nur zwei Mal am Tag, um 10 Uhr morgens und um 18<br />

Uhr abends, sieht die Anstaltsordnung einen "Gang zur Verrichtung der Notdurft" vor. Ziffer 3<br />

dieser Verordnung stellt es ins eigene Ermessen der Wärter, weitere Toilettengänge zu gestatten.<br />

Diese Vergünstigung lassen sie sich honorieren: mit Tabak, Süßigkeiten, Obst - Mitbringsel von<br />

Angehörigen, die einmal im Monat die Patienten besuchen dürfen. Der Gang zur Toilette ist ein<br />

Stück Freiheit, nach der jeder Kranke sich sehnt. Dieser Ort - ein kreisrundes Loch, mit zwei<br />

Wasserhähnen in der Wand - ist die einzige private Zuflucht in der Klinik. Drei Minuten erlauben<br />

die Wärter, die selbst gedrehte Zigarette oder die gestopfte Pfeife zu rauchen. Sonst, und das wird<br />

strikt eingehalten, darf nirgends im Hospital gepafft werden.<br />

Nach dem Rundgang saß ich beim Chef im Zimmer und trank Tee. Dann erzählte er mir,<br />

wer die Wärter sind. Ihre Vergangenheit haben die meisten nicht auf den Sanitätsschulen, sondern<br />

<strong>als</strong> "Seki" (Kriminelle Häftlinge) gemeistert. Ihre Delikte waren Mord, Vergewaltigung, schwerer<br />

Raub. Als Internierte in den Arbeitslagern begannen sie eine neue Laufbahn, im Auftrag der<br />

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