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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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längst nicht so viel arbeiten wie die "normalen" Psychiater. Ihre Patienten sollen ja nicht mehr<br />

behandelt, sondern nur noch "ruhig-gestellt" werden.<br />

Der Preis für diese privilegierte Psychiater-Klasse: Die Ärzte in den Sonderkliniken<br />

müssen die Uniform des Innenministeriums tragen, und sie haben überhaupt keinen<br />

Entscheidungsspielraum mehr. Was im Innenministerium und im Hauptquartier des KGB<br />

beschlossen wird, muss von ihnen sofort vollstreckt werden. Mit diesem Zwei-Klassen-System wird<br />

jegliche Solidarität unter den Ärzten verhindert. Diskussionen über die Reformen werden im Keim<br />

erstickt.<br />

Obwohl mir in den letzten Jahren immer klarer wurde, dass auch ich <strong>als</strong> Arzt im "Serbskij-<br />

Institut" von Politikern missbraucht wurde, kam für mich eine Anstellung in einer Sonderklinik<br />

nicht in Frage. Diese Ärzte brechen meiner Meinung nach ihren Eid <strong>als</strong> Mediziner. Sie verraten<br />

ihren Beruf.<br />

Ich habe mich oft gefragt, ob das nicht jeder Psychiater tut. Denn eines zeigt die<br />

Geschichte der Psychiatrie: Dieser Zweig der Medizin ließ sich immer besonders gut für die<br />

Zwecke der Machthaber einspannen. Und das gilt nicht nur für die Sowjetunion und nicht nur für<br />

Diktaturen. Bis vor wenigen Jahren wurden in den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik<br />

Homosexuelle für krank erklärt und psychiatrisch behandelt. Die Theorie, dass Homosexualität<br />

eine Krankheit sei, wurde von Kirche und Gesellschaft auch im Westen zur Unterdrückung jener<br />

Menschen eingesetzt, deren Sexualität der gesellschaftlichen Norm nicht entspricht. In der UdSSR,<br />

wo die Strafbarkeit der Homosexualität nach der Oktoberrevolution abgeschafft wurde, griff die<br />

Partei 1934 auf die bürgerlichen Vorurteile von Moral und Sitte zurück - mit den strafrechtlichen<br />

Konsequenzen.<br />

Überall in der Welt steht der Psychiater in einer außergewöhnlichen Konfliktsituation:<br />

Einerseits will er dem Patienten, der sich ihm anvertraut hat, helfen, andererseits wird er von einer<br />

Institution bezahlt, die bestimmte Ergebnisse erwartet - beispielsweise von einer<br />

Gesundheitsbehörde, einer Gefängnisverwaltung oder einer Armee. So muss ein Militärpsychiater<br />

die Kampfkraft der Truppe im Auge behalten und dabei jene Soldaten aussortierten, die den<br />

militärischen Anforderungen nicht genügen. Es gehört wenig Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie<br />

dabei banale Disziplinarvergehen zu "seelischen Störungen" uminterpretiert werden können.<br />

Dieser Grundwiderspruch hat in der Sowjetunion eine besondere Variante: Die<br />

Psychiatrie wird zum System der politischen Unterdrückung - zur Strafmedizin. Viele Ärzte<br />

machen es sich einfach. Weil sie wissen, welche Ergebnisse die Partei bei "politischen Fällen" von<br />

ihnen erwartet, machen sie die psychiatrische Untersuchung zum Verhör. Bei ihren Fangfragen hat<br />

der Patient keine Chance.<br />

So schildert der Biologe Jewgenij Nikolajew in seinem heimlich angefertigten<br />

Gedächtnisprotokoll, wie er von meinem Kollegen Dr. Wladimir Dmitriewskij in der<br />

psychiatrischen Abteilung des Moskauer Kaschtschenko-Krankenhauses "behandelt" wurde.<br />

Auszüge aus der Vernehmung:<br />

Dmitriewskij: "Ich interessiere mich für Ihre Ansichten. Die Klinik, die Sie hier<br />

herschickte, hat mich von Ihren merkwürdigen Auffassungen über unsere Gesellschaft informiert."<br />

Nikolajew: "Was immer ich für Ansichten haben mag - das kann doch kein Grund für<br />

eine psychiatrische Untersuchung sein."<br />

Dmitriewskij: "Wenn das so wäre, wären Síe nicht hier."<br />

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