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IN DER PSYCHIATRIE ZERBROCHEN – DAS SCHICKSAL<br />

DES ALBERT HUTH IN DEN ALSTERDORFER ANSTALTEN<br />

ZU HAMBURG<br />

Schlangengruben in Deutschland. Im Rahmen des national-sozialistischen<br />

Euthanasie Programms wurden mehr <strong>als</strong> 100.000 psychisch kranke Menschen getötet. Dies<br />

war nur mit Billigung zahlreicher Ärzte und Kliniken möglich. Verbrechen, die über<br />

Jahrzehnte nicht aufgearbeitet, verdrängt, vergessen wurden. Wie gleichsam der Fall des<br />

entmündigten Halbjuden Albert Huth. Er war unbequemer Zeuge zahlreicher<br />

verbrecherischer Nazi-Euthanasie Aktionen. Warum er bis heute in der Pflegeanstalt<br />

bleiben musste, mit Psychopharmaka "ruhig" gestellt wird -vermag niemand zu<br />

begründen. Ein Fall für die Justiz war die Lebensgeschichte des Albert Huth allemal.<br />

Zeitmagazin, Hamburg 20. April 1979<br />

Wenn in den Alsterdorfer Anstalten die Girlandenfeste steigen, ist Albert Huth stets<br />

dabei. Mit seiner Ziehharmonika schmettert er Shanties von hoher See, mit seiner Mundorgel bläst<br />

er "be-ba-ba-loovar, she is my baby". "Das ist swinging Alsterdorf", sagt Pfarrer Hans-Georg<br />

Schmidt frohgestimmt. "Und das ist unser Albert Huth", fügt er nicht ganz ohne Stolz hinzu. Der<br />

Pfarrer leitet die Anstalten im nördlichen Hamburg, eines der "größten Werke der Diakonie in der<br />

Bundesrepublik". Albert Huth macht nicht nur leidenschaftlich gern Hausmusik, für die 1.300<br />

psychisch Kranken und geistig Behinderten von Alsterdorf, er schreibt auch Gedichte, die der<br />

Pfarrer in die Anstaltszeitung wir leben festgedruckt einrücken lässt; mal dichtet er über die<br />

Berliner Mauer, mal über die Verkehrstoten in der City.<br />

Doch Albert Huth ist alles andere <strong>als</strong> ein Normaler. Er ist ein Alsterdorfer - und das<br />

schon im dritten Jahrzehnt. Ein "Schizophrener", bedauert Pfarrer Schmidt. "Ein Schwachsinniger,<br />

ein Psychopath", urteilt die Chefärztin Charlotte Preußner-Uhde, kurz vor der Pensionierung, im<br />

Anstaltsjargon kurz P.U. genannt. Die Psychiaterin glaubt zu wissen, wovon sie reden. Ein Kinder-<br />

Intelligenztest ergab bei dem 53jährigen lediglich einen Quotienten von 80. Und schließlich,<br />

bemerkt die Dame im weißen Kittel, sei Albert Huth auch "genetisch vorbelastet". Eigentlich heißt<br />

er gar nicht Huth, sondern Heimann. Er ist ein uneheliches Kind von hutzlig-kleiner Gestalt.<br />

Außerdem, erklärt die Chefpsychiaterin, hat die Schwester seiner Großmutter ihren Lebensabend<br />

hier verbracht - "von Kretin wegen".<br />

Derlei Diagnosen und Biografien wiegen in Alsterdorf schwer. Aber noch erschwerender<br />

ist die Tatsache, dass Albert Huth <strong>als</strong> "Lügenbold" und "Querulant" eingestuft wird, der "zwischen<br />

Dichtung und Wahrheit nicht zu unterscheiden vermag" (Pfarrer Schmidt). Und Ärger gibt's fast<br />

täglich mit ihm. Huth ist einer, der nicht ohne weiteres in die melancholisch-depressive<br />

Alltagsschablone einer Heilanstalt passt. Selbst die "sozialtherapeutischen Maßnahmen zur<br />

Förderung der Persönlichkeit und Individualität" (Preußner-Uhde) lehnt er rundweg ab. Was soviel<br />

heißt wie: Huth hat keine Lust mehr, Tag für Tag Räume zu kehren und Klosetts zu schrubben -<br />

immerhin macht er das schon seit 20 Jahren. Ein chronischer "Sammler" ist er noch dazu. So<br />

werden die Behinderten bezeichnet, die ihre wenigen Habseligkeiten, ob Briefe, Talismann oder<br />

Transistorradio unter dem Kopfkissen oder Matratze verstecken. Ein Verhalten, das die Pfleger<br />

nicht dulden wollen. Denn Ordnung gilt in Alsterdorf <strong>als</strong> erste Stufe zur Sozialisation.<br />

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