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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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seltensten Fällen das Klosett im Hause, da der Stuhlgang meist im Laufe des Tages erfolgt.<br />

Dasselbe ist bei den schulpflichtigen Kindern der Fall, die doch meist ihr Bedürfnis in dem<br />

Schulgebäude befriedigen. Da die kleinen Kinder gewöhnlich ein Töpfchen zu dem Geschäft<br />

benutzen, so bleiben <strong>als</strong>o nur die Frauen übrig, und davon sind in jeder Wohnung durchschnittlich<br />

nur eine. Es würden <strong>als</strong>o auf je ein Klosett zehn bzw. elf Personen kommen. Nimmt man aber die<br />

doppelte Zahl, <strong>als</strong>o zwanzig Personen an, die ein Klosett benutzen, so können auch hieraus kaum<br />

Unzuträglichkeiten entstehen. Denn eine solche Sitzung nimmt im Durchschnitt, incl. Ordnung der<br />

Kleider, was bei den Frauen wohl nicht notwendig sein dürfte, 3 bis 4 Minuten oder auch 5<br />

Minuten in Anspruch; rechnet man auf eine Sitzung sogar 10 Minuten, so werden 12 Tagesstunden<br />

allein schon Zeit genug bieten zur Benutzung des Klosetts für 72 Personen, wobei angenommen<br />

wird, dass jede Person täglich einmal Stuhlgang hat, was bekanntlich bei Frauen nicht der Fall ist,<br />

von denen die meisten nur alle zwei bis drei Tage einmal Stuhlgang haben."<br />

Auch die pathetisch so gepriesenen zwanziger Jahre änderten nichts an der miesen Lage<br />

der Arbeiter. Berlin war oben hui und unten pfui. Über eine halbe Millionen Menschen hatten sich<br />

hoffnungslos in ihrem Elend verkrochen - in den Mietskasernen versteckt. Eine Umfrage der AOK<br />

aus dem Jahre 1912: "Eine in Berliner Volksschulen unter Kindern von sechs und mehr Jahren<br />

durchgeführte Statistik ergab: 70 Prozent hatten keine Vorstellung von einem Sonnenaufgang, 76<br />

Prozent kannten keinen Tau, 49 Prozent hatten nie einen Frosch, 53 Prozent keine Schnecke, 87<br />

Prozent keine Birke, 59 Prozent nie ein Ährenfeld gesehen; 66 Prozent kannten kein Dorf, 67<br />

Prozent keinen Berg, 89 Prozent keinen Fluss. Mehrere Schüler wollten einen See gesehen haben.<br />

Als man nachforschte, ergab es sich, dass sie einen Fischbehälter auf dem Markt meinten."<br />

Sechzig Jahre danach - man schreibt das Jahr 1980. Die Kreuzberger Gneisenaustraße,<br />

eine breite Allee mit ausgewachsenen Kastanienbäumen in der Fahrbahnmitte. Typische Berliner<br />

Hinterhöfe. Die dreckigste Bruchbuden haben die Deutschen inzwischen verlassen, Türken zogen<br />

dort ein. Den Armen aus Pommern, Vorpommern, Schlesien und Ostpreußen folgten die Armen<br />

aus Anatolien. Eine unscheinbare Gesetzmäßigkeit.<br />

Kreuzberg heißt "Klein Istanbul" oder "Klein Ankara". Jedes viertes Kind ist türkisch,<br />

über 80.000 Ausländer leben schon über Jahre in diesem ausgegrenzten Getto; nicht selten mit acht<br />

oder mehr Personen in einer Drei-Zimmerwohnung. Vor der Eingangstür der Hausnummer 60<br />

spielen türkische Mädchen "Hinkefuß" auf dem Trottoir, Frauen stricken auf den Fensterbrettern.<br />

An der Hausmauer lehnt ein Mittvierziger, der den Schnaps wie Limonade trinkt und<br />

Unverständliches über den Fußball-Bundesliga-Absteiger Hertha BSC stammelt. Im Hausflur<br />

riecht's nach Katze, Knoblauch und Bratkartoffeln. Die an der Wand angebrachte Namenstafel ist<br />

<strong>als</strong> Wegweiser gedacht. Wer zu Asragus will, kann gleich vorne rechts die Treppe benutzen.<br />

Wer zu den Wohngemeinschaften, zu den Spontis, Alternativlern, Verweigerern oder<br />

Aussteigern will, muss in der Gneisenaustraße, Hausnummer 60 , automatisch über den Hinterhof<br />

und dann fünf Stockwerke hoch. Vorbei an ausgebrannten Mopeds und einem ausgeschlachteten<br />

Lloyd, an Plastiktüten voller Industriemüll, leeren Flaschen und ausgelatschten Schuhen. Aus den<br />

Treppen sind schon einige Stiegen herausgerissen, die Flurbeleuchtung funktioniert nicht. Wie im<br />

vergangenen Jahrhundert gibt's auf jedem zweíten Stockwerk das obligate Scheißhaus; Duschen<br />

waren und bleiben Prívat- und damit Glückssache.<br />

Paradoxien unserer Epoche. Vor allem Jugendliche aus dem Wohlstands-Deutschland<br />

zieht es nach Kreuzberg. Junge Menschen, die Not und ihre Linderung nicht kennengelernt haben,<br />

dafür aber Auto, Stereo- oder später auch die CD-Anlage ihr eigen nennen können, die in einem<br />

nie da gewesenen Überfluss aufwuchsen und dennoch die Wegwerf-Gesellschaft ablehnen, die<br />

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