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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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lieben Ruhe willen. Er hätte sich ebenso gut vor der Eröffnungsveranstaltung, an der ihm soviel<br />

lag, mit den renitenten Jugendlichen zusammensetzen und mit ihnen über ihre Vorstellungen<br />

sprechen können. Denn eines war doch ziemlich klar: Diese Jugendlichen wollten etwas, nur was,<br />

das wusste keiner. Rüdiger jedenfalls hatte sich fest vorgenommen, mit Dino und Co.<br />

Berührungspunkte zu finden. Doch er tat sich ungemein schwer.<br />

Dino und Co., das waren 15 Leute zwischen 18 und 23 Jahren, die sich in einem Klub<br />

zusammengerottet hatten -"Trink-Dich-Frisch" nannten sie ihn. Jugendliche, die in ihrem Leben<br />

noch nie aus Spandau rausgekommen sind, die tagein, tagaus durch ihr Neubauviertel lungern. Die<br />

meisten stammen aus zerrütteten Familien. Vater arbeitslos und Alkoholiker, Mutter laufend<br />

schwanger, an Streitereien mangelt es nicht, nur am Geld. Die meisten sind seit ihrem Schulabgang<br />

arbeitslos. Jugendliche, die seit ihrer Kindheit machen konnten, was sie wollten - sie blieben doch<br />

die begossenen Vorstadt-Köter, eben Straßenkläffer, die keiner hören will und keiner ernst nimmt.<br />

Zärtlichkeit und Nähe haben sie nie kennen gelernt, Lehrstellen gab's auch keine, nur die ewige<br />

Langeweile und ein Nichtstun, das aggressiv macht. Und das Jahr für Jahr im grauen Beton mit<br />

seinen Schiffsluken und der quälenden Enge.<br />

Da holt sich dann ein jeder, was er braucht, sucht sich seine Nischen in einer Gesellschaft,<br />

die dichtgemacht hat, die keine Chancen eröffnet, die von solchen Jugendlichen einfach nichts<br />

wissen will und mit dem Begriff "Randgruppe" für sich ein beruhigendes Vokabular erfand. Setzt<br />

sich dieses Grundgefühl erst einmal fest - nutzlos zu sein, nicht gebraucht zu werden - dann sind<br />

Raubzüge, Körperverletzungen, Autodiebstähle eine der unweigerlichen Antworten - nicht aus<br />

Kriminalität, vielmehr aus Verzweiflung. Schließlich wollen Dino und Co. sich ihre Sehnsüchte,<br />

ihre Träume nach Freiheit, Autobahn, Disco und Mädchen nicht vermasseln, nicht zertreten lassen.<br />

Sie wollen nicht dastehen nur mit einer lumpigen Mark in der Hand und noch eine weitere Abfuhr<br />

riskieren. Sie sind zwar Frührentner, das heißt für sie aber noch lange nicht, den ganzen Tag am<br />

Fenster zu hocken und Mutter immer beim Staubsaugen zu helfen.<br />

Unversehens geriet der zunächst unbeleckte Rüdiger in ein Dickicht sozialer Probleme,<br />

auf die er nicht vorbereitet war, aus denen es aber keinen Ausweg gab. Wie sollte er eine Lehrstelle<br />

besorgen, wie sollte er ihnen die Trinkerei, die Kokserei abgewöhnen? Gut, Verhütungsmittel für<br />

die Mädchen hätte er vielleicht organisieren können, und mit dem Jugendrichter sprach er ohnehin<br />

von Zeit zu Zeit. Rüdiger, der aus der strumpfsinnigen Fabrik geflohen, ausgestiegen war, der den<br />

Mief der Brauerei nicht mehr ertragen hatte und an einen sozialen Aufstieg glaubte, er sah sich<br />

plötzlich einer noch "beschisseneren Welt" gegenüber - Jugendlichen, die teilweise noch nicht<br />

einmal die Möglichkeit bekamen, am Fließband zu stehen und für die ein Disco-Abend das höchste<br />

der Gefühle wäre, wenn sie doch nur das nötige Geld hätten.<br />

Aber die Kinder vom Falkenhagener Feld waren zum Teil schon über Jahre ohne Job, und<br />

von ihren Eltern kriegten sie auch nicht die ersehnten Groschen. Deshalb gingen sie in die "Gelse",<br />

auf der Suche nach Nähe, nach Geborgenheit, nach Durchbruch. Da standen sie nun in dem<br />

bombastischen Neubau, der alles andere war <strong>als</strong> ein Jugendfreizeitheim. Vielleicht ein<br />

Offizierskasino, vielleicht ein Soldatenheim, so hygienisch und steril schlug schon das Äußere<br />

durch. Die skandinavischen Klubsessel, das Tonstudio und die Großraumküche für eine ganze<br />

Kompanie. Die "Gelse" war das traurige Resultat ehrgeiziger Reißbrett-Bürokraten, die über<br />

"jugendpflegerische Aufgaben" lamentierten, aber insgeheim ihre Bedürfnisse nach<br />

Großmannssucht und Millionenetats verwirklicht sehen wollen.<br />

Schon ein halbes Jahr nach der Eröffnung war von dem Glanz nichts mehr da. Wie sollte<br />

es auch? Jugendliche, die zu Hause nicht einmal ihr eigenes Zimmer hatten, die nie viel Spielzeug<br />

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