07.02.2013 Aufrufe

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Folgerichtig beantragen die 64 Alternativprojekte einen finanziellen Zuschuss vom<br />

Berliner Senat. Mit zunächst 20 Millionen Mark sollen weitere 500 neue Arbeitsplätze eingerichtet<br />

werden. Schon in naher Zukunft würden jährlich etwa 40 bis 50 Millionen Mark benötigt, weil nur<br />

"die echte Hilfe zur Selbsthilfe" den Menschen Arbeitsplatz orientierte Perspektiven vermitteln<br />

könne. Zu dem von Aussteigern und Verweigerern bisher ungewohnten Ansinnen, ihre Arbeit mit<br />

der Unterstützung von Steuergeldern auszubauen, machte der Berliner Hochschullehrer Peter<br />

Grottian den Parlamentariern folgende Rechnung auf. "Wenn Arbeitsmarkt-Programme von 960<br />

Millionen Mark lächerliche 1.517 Arbeitsplätze gebracht haben und die laut Helmut Schmidt<br />

(Bundeskanzler 1974-1982) investierten 55 Milliarden Mark bei angeblich 900.000 erhaltenen oder<br />

neu geschaffenen Arbeitsplätzen pro Arbeitsplatz 55.000 Mark an Steuergeldern gekostet haben,<br />

wird die Frage erlaubt sein, wie viele selbstorganisierte Arbeitsplätze in kollektiven<br />

Alternativbetrieben mit diesem Geld hätten geschaffen werden können."<br />

Das langsame Eindringen der Alternativ-Bewegungen in die etablierten sozialen<br />

Versorgungssysteme und in die offiziellen Wirtschaftskreisläufe bestätigt die Theorie des<br />

Sozialwissenschaftlers Gerd Vonderach. Der Oldenburger Hochschullehrer entwickelte die<br />

inzwischen weithin anerkannte These, dass sich die alternative Schatten-Ökonomie "eine neue Art<br />

von Selbständigkeit" abzeichnet. Sie sei Resultat eines krisenhaften Strukturumbruchs und werde<br />

vor allem von jungen Menschen <strong>als</strong> Ausweg aus erschwerten Berufskarrieren und <strong>als</strong> Alternative zu<br />

den vorherrschenden Arbeitsrollen angestrebt. Ausgangspunkt und Wertorientierung der neuen<br />

Selbständigen, so Gerd Vonderach, unterschieden sich von den Selbständigen bisheriger Art.<br />

Denn, so seine Analyse, die meisten neuen Selbständigen fänden weder durch ererbten Besitz oder<br />

familiäre Tradition noch in professioneller Weise zur selbständigen Existenz. Ihre Arbeit sei<br />

einerseits für sie ökonomisch notwendig, andererseits aber Ausdruck ihres Versuchs,<br />

selbstbestimmte und unentfremdete Arbeits- und Lebensformen zu entwickeln. Vonderach: "Der<br />

neue Selbständige ist einerseits engagiert und ernsthaft, andererseits spielerisch und experimentell.<br />

"So kennt er für seinen Job im Vergleich zur bürgerlichen Gesellschaft nur eine geringe<br />

Professionalisierung, in den seltensten Fällen eine diplomierte Qualifikation für seinen Beruf.<br />

Gleichwohl kann er auf ein meist überdurchschnittliches Schul- und Ausbildungsniveau verweisen.<br />

Berufliche Fertigkeiten lernt er erst bei der Arbeit.<br />

Eigenschaften dieser Art lassen wohl kaum auf eine Sorte Mensch schließen. Die teilweise<br />

ganz vollzogene Abwendung von den erwerbswirtschaftlichen, bürokratischen Arbeitsformen und -<br />

inhalten ebnet vielmehr im alltäglichen Leben die Chance zur Selbstverwirklichung und zur<br />

Sinnvermittlung. So glaubt Vonderach, dass de oder Selbständigkeit "<strong>als</strong> eine praktische Dominanz<br />

des kulturellen Selbstentfaltungsanspruchs über die Effektivitätsprinzipien der vorherrschenden<br />

berufswirtschaftlichen Sphäre" verstanden werden sollte.<br />

Dennoch zwingt die chronische Unterkapitalisierung und schwache Konkurrenz-Situation<br />

viele neue Selbständige zu Kompromissen zwischen ihren Ansprüchen und der wirtschaftlichen<br />

Realität. So fließen die Grenzen vom informellen Schattensektor zum formellen Absatzmarkt<br />

nahtlos ineinander über - ein ökonomisches Spektrum, das von Eigen- und Gemeinschaftsarbeit<br />

bis hin zur Geld- und Erwerbswirtschaft reicht. Dessen ungeachtet sind die Weichen in Richtung<br />

eines zweigeteilten Wirtschaftssystems in Deutschland längst gestellt. Die alternative<br />

Schattenwirtschaft bildet den Ausgangspunkt.<br />

Sie verkörpert schon heute einen Gegenbereich der dezentralen Produktion und<br />

Versorgung, der sich von der zentralen Großtechnologie und Bürokratie abhebt. Für Jugendliche,<br />

die offiziell arbeitslos sind, ohne je gearbeitet zu haben, ist er zumindest zeitweilig eine Art<br />

457

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!