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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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Hobelbank besorgt werden, dann wollten alle gemeinsam töpfern, schließlich war es die<br />

Tischtennisplatte, die noch fehlte. Werner, von etwas untersetzter Gestalt und weitaus ruhiger,<br />

organisierte Kühlschrank und Geschirr. Harald , mit seinem strähnigen schwarzen Haar und<br />

wieselflinken Augen, backte nach Mutters Küchenrezept seinen ersten Apfelkuchen. Nur Gerry saß<br />

meist stoisch in der Sofa-Ecke, schaute gelegentlich von seinem Comic-Heft trübsinnig hoch und<br />

verkroch sich immer sehr schnell unter seinem Bettlaken.<br />

Gerry, sagen seine Freunde, "hat mit seinen zwanzig Jahren den Abgang von<br />

Donaueschingen nach Berlin nicht gepackt". Je länger er in Kreuzberg lebt, desto einsilbiger und<br />

melancholischer wird er. Zurück in den Schwarzwald will er aber auch nicht. Aus ihm ist, wenn<br />

überhaupt, nur selten einen Satz herauszulocken. "Ich weiß nicht ..." lautet seine Standardfloskel.<br />

Harald: "Was glaubst du denn, wo so manchmal deine Lustlosigkeit herkommt, deine Apathie, so<br />

ein bisschen?" Gerry: "Das hab ich mich schon gefragt. Hab keine Antwort gefunden." Harald:<br />

"Hast du dich gefragt oder bist du von uns gefragt worden?" Gerry: "Hab mich selber gefragt. Hab<br />

rumgehangen bei der Arbeit und auch keine Lust gehabt. Aber genau gewusst, dass ich es doch<br />

machen muss. Ich weiß nicht." Gerrys Anhaltspunkte ist seine Matratze. Oft schläft er drei Tage in<br />

einem durch. Johannes: "Da macht er nicht mal ein Kaffeepäuschen." Auch alle Versuche, Gerrys<br />

Zimmer ein wenig heimisch herzurichten, blieben umsonst. Als die Gruppe ihre Räume tapezierte,<br />

bekam auch Gerry seine Rauhfaserstreifen. Die Hälfte der Bude beklebte er. Dann war er plötzlich<br />

weg.<br />

Seit drei Jahren begnügte er sich nunmehr mit der alten Matratze. Ein altes, rostiges<br />

Fahrrad vom Vormieter steht ebenso an seiner Zimmerwand wie die Tapetenrolle im Farbeimer .<br />

Wenn Gerry eine Freundin hat, verschwindet er für zwei bis drei Wochen. Zwischendurch jobbt er<br />

hin und wieder, wenn's Geld knapp wird. Er findet auch jedes Mal eine Stelle. Denn Elektriker sind<br />

in West-Berlin gefragte Leute. Denn klotzt er wie früher für einen Monat ran und steigt fürs<br />

nächste Vierteljahr wieder aus. Im letzten Jahr musste Gerry jedenfalls eine zweite Lohnsteuerkarte<br />

beantragen. Auf der Ersten war für die zahlreichen Firmenstempel kein Platz mehr.<br />

Wurde Gerry in der Großstadt zum Flippie, so entwickelte sich sein bester Freund Harald<br />

zum Hippie - zumindest vordergründig. Er kaufte sich ein kleines Kreuz und lässt es seither vom<br />

rechten Ohrläppchen baumeln. Auch von seinem blau-rot-gemusterten Tüchlein kann Harald sich<br />

nur schwer trennen. Er trägt es am liebsten Tag und Nacht. Freiheiten, die in Donaueschingen<br />

undenkbar gewesen wären. Doch mit derlei Requisiten will Harald nicht darüber hinwegtäuschen,<br />

dass er - trotz aller neuen Hoffnungen - über ein halbes Jahr in den Seilen hing. Beginnt Gerry<br />

seine Sätze mit "ich weiß nicht", so hat Harald "einfach das Gefühl, dass es mir in der Gesellschaft,<br />

wie sie im Moment ist, überhaupt nicht gefällt."<br />

Es ist ein vages Gefühl, das ihn aber dazu brachte, in sechs Monaten nicht einmal auf die<br />

Straße zu gehen. Selbst zu seinem 21. Geburtstag ließ er sich Wein und Bier holen. Harald schlief<br />

lieber in den Tag hinein, verlor sich über Stunden in Rock 'n' Roll-Tonbändern, die Werner<br />

mitgebracht hatte. Fing an, auf der Gitarre Griffe zu üben, um das Lied "Ein Hase saß im tiefen<br />

Tal ..." melodisch begleiten zu können. Die meiste Zeit stand er jedoch wie ein Greis am<br />

Küchenfenster, blickte auf niedriggelegenere Dächer, zählte Schornsteine und Fernsehantennen<br />

oder stierte eine mausgraue Mauer auf dem Hinterhof an, die sich an trüben Tagen kaum von der<br />

dichten Wolkendecke abhob. "Ich fühlte mich allein, war nervlich fertig und zitterte am ganzen<br />

Körper", umschrieb er seinen Gemütszustand. In Wirklichkeit hatte ihn das Heimweh gepackt, er<br />

war depressiv und spürte seine Orientierungslosigkeit. In diesen Augenblicken am Küchenfenster<br />

dachte er nicht an seinen selbstsicheren Ausspruch "irgendwann, irgendwo, irgendwen", <strong>als</strong> er mit<br />

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