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Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

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schwarzen Vechta für 9.50 Mark auf dem grauen Markt beschaffen (Ladenpreis : 7,25 Mark).<br />

Apotheker und bekennender Katholik Hermann Bockstiegel prüft mit Argwohn, ob Kundinnen,<br />

die ein Pillenrezept vorlegen, auch verheiratet sind. Frauenarzt Holger Wirmer will Studentinnen<br />

sowieso am liebsten überhaupt kein Rezept ausstellen: "Gerade die Intelligenz muss sich<br />

vermehren."<br />

Im Südosten Niedersachsens, in Braunschweig und seinem Umland, tritt "kleinbürgerliche<br />

Radikalität an die Stelle des ländlichen Konservativismus", erklärt Oberlandesgerichtspräsident<br />

Rudolf Wassermann (*1925+2008). Die Braunschweiger ließen sich schon oft von extremen<br />

Bewegungen mitreißen. In der Stadt Heinrich des Löwen zwangen 1918 die Bürger den Welfen-<br />

Herzog Ernst August (*1897 +1953) zum Thronverzicht. Und dort, wo dann der<br />

sozialdemokratische Krankenkassen-Angestellte und spätere DDR-Ministerpräsident Otto<br />

Grotewohl (*1894+1964) zum Justizminister ernannt wurde, marschierten 1931 riesige SA-<br />

Kolonnen stundenlang durch das Stadt-Zentrum. 1932 wurde Adolf Hitler vom Braunschweiger<br />

Innenminister zum Regierungsrat ernannt, damit er deutscher Staatsbürger wurde und für die<br />

Reichstagswahl kandidieren konnte.<br />

Zu jener Zeit versammelte sich die "Kleinstadt-Elite", etwa des Städtchens Schöningen<br />

am Elm, all abendlich zum Fanfaren-Stoß vor dem stattlichen SA-Uniformgeschäft auf dem Markt;<br />

ein Fanfaren-Stoß <strong>als</strong> Genugtuung, ein Fanfaren-Stoß auf das "Tausendjährige Reich" - "Nun lasset<br />

die Fahnen fliegen", schallte es in diesen düsteren Jahren in die Gassen hinein. Und zum Tanzen<br />

gingen Hitlers Deutsche natürlich in den legendenumwobenen "Schwarzen Adler" mit seinem<br />

prächtig ausstaffierten Parkettsaal - abends. Denn tagsüber schlugen, folterten SA-Schergen in<br />

seinen Kellerräumen jüdische Mitbürger zum KZ-Abtransport in Viehwagen windelweich.<br />

Barometer politischer Strömungen ist Braunschweig samt seinem Umland spätestens seit<br />

Kriegsende nicht mehr. Die nahe "Zonengrenze" hat die Stadt von ihrem wirtschaftlichen<br />

Hinterland abgeschnitten. Zwar fließen seit Jahren Steuergelder in Millionenhöhe in den 560<br />

Kilometer langen Grenzlandstreifen. "Jedoch ohne großen Erfolg", klagt Schöppenstedts SPD-<br />

Landrat Helmut Bosse. Von der Zonenrandförderung profitieren wenige Großunternehmen wie<br />

das VW-Werk in Wolfsburg. Doch in den Grenzkreisen Gifhorn, Helmstedt oder Wolfenbüttel<br />

investierte kein kapitalkräftiger Wirtschaftsbetrieb. Das Helmstedter Kohlenkraftwerk musste in<br />

den vergangenen Jahren sogar 4.000 Arbeiter entlassen. Braunkohle war nicht mehr gefragt. - Tote<br />

Hose vielerorts, fast überall; viele Landeulen, wenig Menschen.<br />

Die Gegend, in der einst Till Eulenspiegel (*1300+1350) den Bürger seinen nackten<br />

Hintern präsentierte, ist ausgeblutet. Die Kleinstädte Schöningen oder Schöppenstedt sind<br />

vergreist. Zwei Drittel der Bevölkerung im Zonenrand ist älter <strong>als</strong> 60 Jahre. Nach dem<br />

Schulabschluss verlässt die Jugend fluchtartig ihre triste Heimat. Zurück bleiben Krämerläden,<br />

verfallene Häuser, Kleingärten, Braunkohlegeruch.<br />

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