07.02.2013 Aufrufe

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

Verfügbar als pdf (8,7 Mb) - Reimar Oltmanns

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

SOWJETUNION - "ICH SCHÄME MICH, EIN PSYCHIATER<br />

ZU SEIN" (TEIL 2)<br />

stern, Hamburg 20. April 1978 10<br />

Für viele mag es wie eine Übertreibung klingen: Wo immer ich <strong>als</strong> Gerichtspsychiater<br />

hinkam, wo immer ich Patienten begutachtete, der KGB war schon da und wartete auf mich. Selbst<br />

am Ende der Welt.<br />

Die Provinzstadt Lesnoje liegt im Norden der Sowjetunion, fast zwei Tagesreisen mit dem<br />

Zug von Moskau entfernt. Im Dezember 1976 schickte mich das Moskauer "Serbskij-Institut" für<br />

Gerichtspsychiatrie in diese abgelegene Gegend. Ich hatte den Auftrag, die gerichtspsychiatrische<br />

Versorgung in diesem Landstrich zu überprüfen.<br />

Schon am ersten Abend in Lesnoje bekam ich unerwarteten Besuch im Hotel. Gegen 22<br />

Uhr - ich hatte mich gerade ins Bett gelegt -klopfte es an meine Tür. Vor mir stand ein etwa<br />

45jähriger Mann. Er grüßte knapp und ging mit einer Selbstverständlichkeit in mein Zimmer, <strong>als</strong><br />

seien wir verabredet. Ich hatte ihn nie gesehen. Aber mir war klar, warum er sich nicht auszuweisen<br />

brauchte: Schaftstiefel, weite graue Hose, drei Sterne am Revers, Tellermütze mit breitem blauen<br />

Band - er trug die Uniform eines KGB-Offiziers.<br />

In der Mitte meines Hotelzimmers blieb er stehen, drehte sich abrupt zu mir um und sagte<br />

ohne Um-schweife: "Genosse Novikov, Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie! Sie kommen<br />

vom "Serbskij-Institut", und Sie können uns helfen, ein Problem zu lösen."<br />

Ich erwiderte nichts und wartete ab. Der KGB-Offizier holte ein versilbertes Etui aus<br />

seiner Jackentasche, bot mir eine Zigarette an, nahm sich auch eine, zog den Rauch tief ein und<br />

kam dann zur Sache: "Unser Problem heißt Woronin. Der Mann wurde vor zwei Monaten wegen<br />

seiner paranoiden Reformideen in die psychiatrische Klinik von Lesnoje eingewiesen. Vom ersten<br />

Tag an hat er sich über alles beschwert und Patienten aufgehetzt. Sogar an das Zentralkomitee in<br />

Moskau hat er schon geschrieben. So einen gefährlichen Irren können wir hier nicht gebrauchen.<br />

Der darf nicht in einer normalen psychiatrischen Anstalt bleiben. Der muss in eine Sonderklinik<br />

eingewiesen werden. Dafür brauchen wir Ihr Gutachten."<br />

Der KGB-Mann sah mich prüfend an. Ich schwieg. Eine Spur ungeduldiger fügte er<br />

hinzu: "Sie verstehen doch, was ich meine?"<br />

Ich nickte. Denn ich wusste, ich hatte keine andere Wahl. Der Rest war Routine. Der<br />

KGB-Offizier gab mir die Zimmernummer Woronins und nannte mir die Uhrzeit für die<br />

Exploration: Raum 308, Abteilung G, morgen zwölf Uhr.<br />

Soviel ich auch überlegte, ich sah keine Möglichkeit, aus diesem Dilemma<br />

herauszukommen. Ich musste Igor Nikolaj Woronin untersuchen. Schon nach den ersten Minuten<br />

der Exploration war mir klar, dass dieser Mann kein Kranker war, sondern ein politischer Fall.<br />

Der 36jährige Facharbeiter gehörte einer kleinen Bürgerrechtsbewegung an und hatte mit<br />

seinen Freunden Flugblätter gegen die "neue Ausbeuterklasse in der Sowjetunion" verteilt. Nach<br />

Artikel 190/1, der die "systematische Verbreitung antisowjetischer Hetzschriften" unter<br />

10 Aufgezeichnet mit Erich Follath<br />

322

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!