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MENSCHENRECHTE VERSTEHEN - ETC Graz

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98 FREIHEIT VoN ARMUT<br />

GESCHICHTE ZUR ILLUSTRATIoN<br />

Hungertod in einem Land des Überflusses<br />

Als die Ernte ausblieb und es keine Arbeit mehr<br />

gab, begannen die Dorfbewohner von Mundiar<br />

im Dschungel nach Nahrung zu suchen.<br />

Sie fanden keine. Stattdessen fanden sie Gras.<br />

Und so mussten die 60 Haushalte des Dorfes<br />

die meiste Zeit des Sommers über Sama-Gras<br />

essen, das normalerweise an Rinder verfüttert<br />

wird. Aber Menschen sollten nicht Gras essen,<br />

und bald wurden die Dorfbewohner schwächer,<br />

ihre Wangen immer mehr eingesunken.<br />

Sie klagten über Verstopfung und Lethargie.<br />

Schließlich begannen sie zu sterben.<br />

Ein Dorfbewohner, Murari, musste seine ganze<br />

Familie langsam der Schwäche erliegen sehen.<br />

Zuerst starb sein Vater Ganpat, danach seine Frau<br />

Bordi. Vier Tage später verlor er seine Tochter.<br />

Überall in diesem abgelegenen Teil Indiens,<br />

der einst von dichtem grünem Wald bedeckt<br />

war, aber heute von der Dürre unfruchtbar gemacht<br />

wird, geschah das Gleiche. Innerhalb<br />

von zwei Monaten verhungerten 40 Mitglieder<br />

des Stammes der Sahariya. Etwa 60 Millionen<br />

überschüssige Tonnen Getreide lagen<br />

gleichzeitig in Lagerhäusern der Regierung.<br />

Das ist nach jedem Standard jedenfalls ein<br />

riesiger Berg Nahrung. Leider erreichte keine<br />

dieser Tonnen Mundiar oder irgendeines der<br />

anderen entlegeneren Dörfer von Südostrajasthan.<br />

Offiziell hungert in Indien niemand. Gemäß<br />

dem öffentlichen Verteilungssystem haben<br />

LandbewohnerInnen, die unter die Armutsgrenze<br />

fallen, das Recht auf Rationskarten,<br />

mit denen sie subventioniertes Getreide von<br />

Regierungsbetrieben kaufen können. Aber in<br />

Bhoyal ist, wie auch anderswo, das System<br />

zusammengebrochen. Der örtliche Sarpanch<br />

(Dorfoberhaupt) hatte alle Rationskarten an<br />

Freunde und Mitglieder der eigenen Kaste<br />

ausgegeben, sagten die DorfbewohnerInnen.<br />

Er strich auch die Namen der Witwen, die<br />

zu einer staatlichen Pension berechtigt waren.<br />

Inzwischen weigerten sich die Regierungsbetriebe,<br />

das billige Getreide den Sahariyas, den<br />

Unberührbaren, zu verkaufen, sondern setzen<br />

es am Schwarzmarkt um. Als die Sahariyas<br />

zu sterben begannen, füllten die BesitzerInnen<br />

der Betriebe die Rationskarten der Unberührbaren<br />

aus, um ihren Betrug zu verschleiern.<br />

Das Niveau der Unterernährung in Indien – einem<br />

Land mit über einer Milliarde Menschen<br />

– ist eines der höchsten der Welt. Etwa die Hälfte<br />

aller indischen Kinder ist unterernährt, während<br />

etwa 50% der indischen Frauen unter Anämie<br />

(Blutarmut) leiden. Und dennoch wird der Großteil<br />

des riesigen indischen Getreideberges entweder<br />

weggeworfen oder von Ratten gefressen.<br />

Es sind die Menschen auf der untersten Stufe<br />

des indischen hierarchischen Kastensystems,<br />

die am meisten leiden. Die Stammesgemeinden,<br />

die 30% der Bevölkerung des Distriktes<br />

Baran ausmachen, sind außerdem die Opfer<br />

einer historischen Ungerechtigkeit. Vor der Unabhängigkeit<br />

von 1947 schlugen sich die Sahariyas<br />

mit Jagen und dem Anbau von ein wenig<br />

Getreide durchs Leben. Nach der Unabhängigkeit<br />

wurden sie aus dem Dschungel verbannt<br />

und ihr Land konfisziert. Die Sahariyas mussten<br />

als LandarbeiterInnen anheuern. Als die<br />

Ernte einen Sommer ausblieb, hatten sie keine<br />

Arbeit und daher auch nichts zu essen.<br />

„Die PolitikerInnen interessieren sich nicht für<br />

uns“, sagt Nabo, eine 50-jährige Frau, während

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