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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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daß viele Entwicklungen <strong>und</strong> Ereignisse, die wir post factum zumindest zu<br />

unserer eigenen Zufriedenheit erklären können, uns in ihrem Auftreten fast<br />

immer überraschen.<br />

Vordergründig kann man derartige Überraschungserlebnisse mit dem<br />

Hinweis auf prinzipielle Grenzen der Prognostizierbarkeit spezifischer Ereignisse<br />

abtun. Die Geschichte ist, in den Worten von Michel Serres, der<br />

„Ort der zureichenden Ursachen ohne Wirkung, der gewaltigen Wirkungen<br />

aus unbedeutenden Gründen, der starken Folgen aus schwachen Ursachen,<br />

der strikten Effekte aus zufälligen Gründen". Spezifische Entwicklungspfade<br />

erscheinen oft nur retrospektiv als notwendiges Ergebnis der jeweili­<br />

3<br />

gen Umstände. Aber auch, wenn wir im einzelnen nicht vorhersagen können,<br />

sollten wir — sofern es überhaupt sinnvoll ist, nach einer Gesellschafts­<br />

4<br />

theorie (im Unterschied zu einer Theorie sozialen Verhaltens) zu suchen —<br />

doch wenigstens in der Lage sein, die uns überraschenden Entwicklungen als<br />

individuelle Erscheinungsformen eines generelleren Musters zu erkennen.<br />

Auch in dynamischen <strong>und</strong> nicht voll determinierten Systemen sollte in anderen<br />

Worten möglich sein, was von Hajek als pattern prediction bezeichnet<br />

hat. Tatsächlich aber scheinen unsere Analysen nicht nur den realen Entwicklungen<br />

hinterherzuhinken; wir haben aus ihnen auch erstaunlich wenig<br />

5<br />

für ein prinzipielles Verständnis der besonderen Dynamik hochkomplexer<br />

sozialer Systeme gelernt. Dadurch aber erhalten auch zunächst befriedigende<br />

Ad-hoc-Erklärungen überraschender Entwicklungen einen beunruhigenden<br />

Grad an Beliebigkeit: so wie sie sind, leuchten sie ein, aber man fragt<br />

sich, ob es sich wirklich um mehr als prinzipiell austauschbare Deutungen<br />

handelt. Das Eingeständnis jedoch, kein Wissen, sondern nur wechselnde<br />

Situationsdefinitionen zu produzieren, muß zwangsläufig das Vertrauen in<br />

die Erklärungskraft unserer theoretischen Paradigmen zerstören.<br />

Ein derart skeptisches Urteil kann allerdings höchstens die Makro<strong>soziologie</strong><br />

betreffen, <strong>und</strong> auch sie ganz speziell hinsichtlich des Anspruchs, Prozesse<br />

<strong>und</strong> Entwicklungen erklären zu können, die als Ergebnis der Verflechtung<br />

zahlreicher Einzelhandlungen ungeplant auftreten. In der Mikro<strong>soziologie</strong><br />

<strong>und</strong> in den Bindestrich<strong>soziologie</strong>n findet dagegen zweifellos nicht nur<br />

ein Wechsel von theoretischen Ansätzen, sondern auch ein Wachstum empirisch<br />

zunehmend gesicherter Theorien mittlerer Reichweite statt. 6 Aus unserem<br />

Verständnis der Vorgänge in Familie <strong>und</strong> Betrieb, von kommunalen<br />

Machtstrukturen <strong>und</strong> bei politischen Wahlen folgt jedoch nicht ohne weiteres<br />

die Einsicht in die spezifische Dynamik des <strong>gesellschaftliche</strong>n Makrosystems.<br />

Ähnliches gilt für strukturelle Forschungsansätze, die mit aggregierten<br />

Individualdaten arbeiten, wie z.B. die Schichtungsforschung, die<br />

eher ein bestimmtes Resultat <strong>gesellschaftliche</strong>r Entwicklung nachzeichnet<br />

als unser Verständnis der Systemdynamik zu erhöhen.<br />

Das Fehlen einer erklärungskräftigen Theorie <strong>gesellschaftliche</strong>r Dynamik<br />

ist nun allerdings kaum die Folge einer leicht vermeidbaren, sozusagen<br />

schuldhaften Ignoranz. Die Leichtigkeit, mit der wir in abstrakten Begriffen<br />

über Gesellschaften, ja über die Weltgesellschaft sprechen können, täuscht<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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