07.03.2014 Aufrufe

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

len Dialektik von Entscheidungs- <strong>und</strong> Begründungszwang darstellt, <strong>und</strong> die<br />

die Paradoxie von subjektiver Avantgarde <strong>und</strong> objektiver Regression qua<br />

Autonomie-Verweigerung als etwas historisch Neues hat entstehen lassen.<br />

Bevor an exemplarischen Datenmaterialien diese Figur näher bestimmt<br />

<strong>und</strong> belegt werden kann, soll sie zusammenfassend allgemein bezeichnet<br />

werden. Es ist eine Identitätsfiguration, die eingespannt zu sehen ist in die<br />

historische Ausdifferenzierung des dialektischen Verhältnisses von Individuum<br />

<strong>und</strong> Gesellschaft. Man gewinnt den Eindruck, daß in der industriellen<br />

Gegenwartsgesellschaft dieser dialektische Bogen bis zum Zerreißen gespannt<br />

ist <strong>und</strong> zunehmend subjektiv nicht mehr in Spannung gehalten werden<br />

kann, weil unter dieser Dialektik das zur Autonomie verurteilte Subjekt<br />

sich überfordert fühlt. Es geht der widersprüchlichen Einheit von Begründungs-<br />

<strong>und</strong> Entscheidungszwang dadurch aus dem Wege, daß es einerseits<br />

die fortgeschrittensten Erkenntnisse für die Begründung der eigenen Lebensführung<br />

in Anspruch nimmt, andererseits aber damit gerade die Vermeidung<br />

von Entscheidungsverpflichtungen begründet, die sich aus dem Bezug zum<br />

öffentlichen Wohl der <strong>gesellschaftliche</strong>n Praxis ergeben, deren Mitglied man<br />

ist. Während auf der einen Seite fast grenzenlos die eigene Lebenspraxis<br />

unter den anspruchsvollen Rationalitätsanspruch der modernen Sozialwissenschaften<br />

gestellt <strong>und</strong> universalisiert wird, wird auf der anderen Seite im<br />

proportionalen Verhältnis dazu die Verbindung der eigenen Lebenspraxis<br />

zur <strong>gesellschaftliche</strong>n Praxis der Gegenwart aufgekündigt <strong>und</strong> jene partikularisiert.<br />

Auf diese Weise wird die widersprüchliche Einheit als solche zerrissen.<br />

Die versozialwissenschaftlichte, in einer Flut von wohlfeilen Paperbacks<br />

unter die Leute gebrachte Argumentation wird wörtlich, als Lebenshilfe,<br />

als die sie zumeist auch angepriesen ist, auf die eigene Lebenspraxis angewendet<br />

<strong>und</strong> die unauflöslichen Folgen dieses Kategorienfehlers, in dem die<br />

Komplexität <strong>und</strong> Zukunftsoffenheit des konkreten Lebens überspielt ist,<br />

werden in der Affirmation von weiterführenden Antworten, die sich zugleich<br />

in der Form der sozialwissenschaftlichen Terminologie kritisch geben<br />

können, verdrängt, indem deren praktischer Anwendungsbereich auf die<br />

insulierte soziale Existenz einer „Szene", einer „WG" einer „Arbeitsgemeinschaft"<br />

oder irgendeiner anderen primärgruppenhaften privaten Existenzform<br />

beschränkt wird. Dadurch sind die aus der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Existenz der eigenen Lebenspraxis resultierenden Problemstellungen von<br />

vornherein entschärft. In dieser Zurichtung <strong>und</strong> Selektivität des Anwendungsbereichs<br />

der überlegenen Begründungsmoral können alle jene lebenspraktischen<br />

Entscheidungsprobleme, die, würden sie nicht verdrängt oder<br />

beiseitegeschoben, als im Rahmen der Moral nicht lösbar erkannt werden<br />

müßten, der umgebenden Gesellschaft angelastet werden. Wo die wörtlich<br />

genommene Begründungsmoral versagen <strong>und</strong> die lebenspraktisch in ihrem<br />

Namen vollzogene Entscheidung im Hinblick auf ihre Folge verantwortet<br />

werden müßte, steht zur Verdrängung dieses Folgeproblems die elitäre<br />

Abgrenzung zur umgebenden „unaufgeklärten" Gesellschaft zur Verfügung,<br />

deren Praxis man sich im Besitz der besseren Argumentation nur entziehen<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!