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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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Strukturen unseres Systems eingebaut <strong>und</strong> spielen sich aus. Ich möchte<br />

noch einmal betonen, daß ich hier keine Untersuchungen wiederholen<br />

will, die ich an anderer Stelle über das gemacht habe, was ich die „Übergangskrise"<br />

(Wallerstein 1985) nenne. Das ist ein langer Prozeß, der vielleicht<br />

150 Jahre in Anspruch nimmt, <strong>und</strong> der bereits begonnen hat. Er<br />

wird mit der Ablösung unseres gegenwärtigen Systems <strong>und</strong> seiner Ersetzung<br />

durch irgendein anderes System enden, ohne daß es jedoch irgendeine Garantie<br />

dafür gibt, daß dieses andere tatsächlich besser sein wird. Es gibt keine<br />

Garantie, aber eine bedeutungsvolle Möglichkeit. Das heißt, wir stehen<br />

vor einer historischen, kollektiven Wahl, etwas, was selten geschieht, <strong>und</strong><br />

was nicht das Los jeder Menschheitsgeneration ist.<br />

Ich möchte hier lieber die Frage der möglichen Rolle der historischen<br />

Gesellschaftswissenschaften bei dieser kollektiven Wahl, die natürlich eine<br />

moralische <strong>und</strong> folglich eine politische Wahl ist, aufwerfen. Das Gr<strong>und</strong>konzept<br />

von „Gesellschaft" <strong>und</strong> die gr<strong>und</strong>legenden historischen Mythen dessen,<br />

was ich den liberal-marxistischen Konsens des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts genannt habe,<br />

ergänzen sich <strong>und</strong> bilden das Gerüst der Sozialwissenschaften, die der<br />

wichtigste ideologische Ausdruck des Weltsystems sind. Ich habe behauptet,<br />

daß diese beiden Elemente im wesentlichen ohne Basis sind. Natürlich war<br />

das kein Zufall. Der Begriff der Gesellschaft <strong>und</strong> die historischen Mythen<br />

waren Teil der Maschinerie, die das moderne Weltsystem in seiner Blütezeit<br />

so gut funktionieren ließ. In der Zeit eines relativen systemischen Gleichgewichts<br />

ist das Bewußtsein der Intellektuellen vielleicht die genaueste Widerspiegelung<br />

der zugr<strong>und</strong>eliegenden materiellen Prozesse.<br />

Wir befinden uns jedoch nicht mehr in einer Zeit relativen systemischen<br />

Gleichgewichts. Es ist nicht so, daß der Apparat schlecht gearbeitet hat,<br />

sondern er hat das eher zu gut gemacht. Die kapitalistische Weltwirtschaft<br />

hat sich über 400 Jahre lang bei der Lösung von kurz- <strong>und</strong> mittelfristigen<br />

Problemen w<strong>und</strong>erbar geschickt gezeigt. Überdies sprechen alle Anzeichen<br />

dafür, daß sie jetzt <strong>und</strong> in naher Zukunft fähig ist, weiter in dieser Richtung<br />

erfolgreich zu sein. Die Lösungen selbst haben jedoch Veränderungen<br />

bei der zugr<strong>und</strong>eliegenden Struktur hervorgerufen, die mit der Zeit diese<br />

große Fähigkeit, die stets notwendigen Anpassungen vorzunehmen, aufheben.<br />

Das System ist dabei, seine Freiheitsgrade zu beseitigen. Ich kann diese<br />

Sache hier nicht beweisen. Ich behaupte sie einfach <strong>und</strong> benutze sie dazu,<br />

die Tatsache zu erklären, daß wir mitten unter den Lobeshymnen auf die<br />

Effizienz der kapitalistischen Zivilisation überall Anzeichen von Unbehagen<br />

<strong>und</strong> kulturellem Pessimismus finden. Der Konsens beginnt also zusammenzubrechen.<br />

Das zeigt sich in der Unzahl von antisystemischen Bewegungen,<br />

die zunehmend stärker <strong>und</strong> unkontrollierbarer werden.<br />

Bei den Intellektuellen schlägt sich dieses Unbehagen in einer zunehmenden<br />

Hinterfragung von gr<strong>und</strong>sätzlichen Voraussetzungen nieder. Heute<br />

gibt es Physiker, die die ganze philosophische Beschreibung der Wissenschaft,<br />

die „Entzauberung der Welt", die von Bacon über Newton zu Einstein<br />

reicht, anzweifeln <strong>und</strong> uns beschwören einzusehen, daß Wissenschaft<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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