07.03.2014 Aufrufe

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Begründungsargument in den konkreten Lebensumständen etwas entspräche.<br />

Ganz anders liegen die Dinge, wenn etwa mit Verweis auf die voraussehbare<br />

Inbetriebnahme eines Kernkraftwerkes in der Nachbarschaft <strong>und</strong><br />

den voraussehbaren Zwang, am Ort bleiben zu müssen, mit Verweis auf<br />

konkrete Bedingungen der eigenen Lebenspraxis also, eine Entscheidung<br />

gegen Nachkommen begründet wird. Im letzteren Fall läge eine Entscheidung<br />

vor, die innerhalb der Lebenspraxis in ihrer konkreten Ausformung<br />

vollzogen worden ist, im ersteren Falle eine durch Versozialwissenschaftlichung<br />

verbrämte Vermeidung der Lebenspraxis selbst.<br />

Diese Vermeidung von Lebenspraxis scheint im Kern hinter den viel<br />

berufenen <strong>und</strong> beschworenen, in der Regel kulturkritisch verkürzt interpretierten<br />

Formen von Leistungsverweigerung, Motivationsverlust <strong>und</strong> Aussteigertum<br />

zu stecken. Auch auf die zweite erwähnte elementare lebenspraktische<br />

Frage: Soll ich eine bestimmte Person heiraten oder nicht, werden<br />

ähnliche, Lebenspraxis vermeidende Antworten, im Bezugsrahmen dieser<br />

aktuellen selbst-technokratisierenden Identitätsformation gegeben. Die<br />

Verwendung des Wortes „Beziehung" verweist darauf. Wenn es heißt „ich<br />

komme gerade aus meiner Beziehung" oder „ich habe Beziehungsprobleme",<br />

dann kommt darin zum Ausdruck, daß man in der Betrachtung dieser<br />

Probleme eine Versozialwissenschaftlichung schon vorgenommen hat. Der<br />

besondere, individuierte Charakter der diffusen Beziehung zu einer bestimmten,<br />

unverwechselbaren <strong>und</strong> unvertretbaren Person ist darin schon<br />

aufgelöst, die Struktur einer Inti<strong>mb</strong>eziehung als solche also schon aufgegeben<br />

worden. Übrig bleibt nur noch das, was allein einer wissenschaftlichen<br />

Betrachtung des Problems zugänglich wäre: nämlich genau der allgemeine,<br />

strukturelle Charakter solcher Beziehungen, wie er sich unabhängig von den<br />

lebenspraktisch konkret gegebenen Personen formulieren läßt. Man glaubt<br />

offensichtlich, durch objektivierende wissenschaftliche Betrachtung aufgeklärt<br />

die lebenspraktischen Entscheidungsprobleme bewältigen zu können<br />

<strong>und</strong> bemerkt nicht, daß man sie als lebenspraktische durch Reduktion auf<br />

wissenschaftliche Problemlösung gerade umgeht.<br />

Ganz ähnliche Phänomene ließen sich für die Bewältigung von Erziehungsproblemen<br />

in der Familie anführen, aber auch für Fragen, die in den<br />

dramatischen Grenzbezirken der Lebensbewältigung, also im Hinblick auf<br />

Krankheit <strong>und</strong> Tod, entstehen.<br />

Die Explikation des Argumentes von der widersprüchlichen strukturellen<br />

Einheit der Lebenspraxis soll nun hier keinesfalls den Anschein einer<br />

quasi-evolutionstheoretischen Argumentation erwecken, sondern die Abbildungsfolie<br />

für Erscheinungen abgeben, die sich, bei allen sonstigen inhaltlichen<br />

Differenzen, in verschiedenen Bereichen der Identitätsformation der<br />

gut ausgebildeten, jüngeren, sich als Aufklärungsavantgarde verstehenden<br />

Generation der Gegenwart auf die Figur einer bestimmten Identitäts- oder<br />

Selbstbildinformation bringen lassen, die ihrerseits eine durch Versozialwissenschaftlichung<br />

der Alltagserfahrung wesentlich angeleitete Reaktion auf<br />

die strukturell bedingte Gegenwartsprägung der allgemeinen strukturel-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!