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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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ten" entschädigt (Simmel 1900, S. 314). Freiheit nämlich ist für Simmel<br />

„Wechsel der Verpflichtung" (a.a.O., S. 297). Sie ist zunächst Freiheit von<br />

etwas, ohne daß bestimmt ist, wozu die Freiheit führt (a.a.O., S. 444 ff). In<br />

dieser Konstellation ist die sich so forcierende Individualisierung charakterisiert<br />

durch „fortwährende Befreiungsprozesse" (ebd.) <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

durch Anstrengungen, der resultierenden Gleichgültigkeit, Langeweile, inneren<br />

Unruhe <strong>und</strong> Entwertung konkreter Inhalte entgegenzuwirken, sich also<br />

neu zu binden.<br />

Aus dieser „tiefe(n) Sehnsucht, den Dingen eine neue Bedeutsamkeit<br />

... zu verleihen", erklärt Simmel „das Suchen nach neuen Stilen, nach Stil<br />

überhaupt" (a.a.O., S. 449). Die Stilisierungen der Lebensweisen sind Ausdruck<br />

einer Selbsterfahrung der Moderne. Zunächst mildern sie den „bis<br />

zum U<strong>mb</strong>rechen zugespitzten" Subjektivismus des modernen Individuums,<br />

weil sie den Lebensäußerungen <strong>und</strong> der Lebensumwelt eine Form von Allgemeinheit<br />

geben (vgl. Simmel 1908b, S. 314). Insbesondere aber sind sie<br />

eine „Verhüllung des Persönlichen" (ebd.), die eine „Schranke <strong>und</strong> Distanzierung"<br />

(Simmel 1900, S. 537) gegen andere <strong>und</strong> anderes errichten.<br />

Der Wert, der einem bestimmten Stil zugeschrieben wird, hängt ab von<br />

der Distanzierung, die er repräsentiert, d.h. nach Simmeis Werttheorie von<br />

den Mühen <strong>und</strong> Opfern, die zur Überwindung des Abstandes nötig wären<br />

(vgl. Simmel 1900, S. 3ff). Simmel löst also das Problem, dem modernen<br />

Leben eine „neue Festigkeit", d.h. Wert <strong>und</strong> Sinn zu ermöglichen, indem er<br />

via seiner Werttheorie an Nietzsches „Pathos der Distanz" anknüpft (s. hierzu<br />

K. Lichtblau 1984, S. 231 ff) <strong>und</strong> in dem Modus der Stilisierung den Lösungsweg<br />

angibt.<br />

Die Distanzierung macht das Nahe fern <strong>und</strong> bringt das Ferne nah (Simmel<br />

1900, S. 534f), ihr Sinn ist die Annäherung (a.a.O., S. 24); die Intention<br />

geht auf Intensität der Beziehung. Obwohl Simmel selber sieht, daß<br />

sich diese Abzweckung des stilhaften Lebens häufiger negativ als positiv in<br />

der Ausgestaltung der Freiheit äußert, hofft er doch, daß der moderne<br />

Mensch durch eine immer weitergehende Stilisierung, durch die rasche Abfolge<br />

von Stilen, paradigmatisch in der Mode (vgl. Simmel 1911, S. 26ff),<br />

<strong>und</strong> durch die Verfeinerung seiner Unterschiedsempfindlichkeit die ätzende<br />

Vergleichgültigung kompensieren kann. Darin liegt sicherlich eine klassenspezifische<br />

Auffassung, die das „Ideal der Vornehmheit" <strong>und</strong> Distanziertheit<br />

für die gebildeten Schichten gegenüber den stillosen Massen der<br />

Arbeiter reklamiert (s. S. Hübner-Funk 1984, S. 195; vgl. auch P. Bourdieu<br />

1982). Es ist dabei aber fraglich, ob Simmel den Optimismus teilt, den er<br />

Nietzsche zuschreibt, daß nämlich die modische <strong>und</strong> beschleunigte Abfolge<br />

moderner Lebensstile als eine Entwicklung zu deuten ist, die „in dem Überw<strong>und</strong>enwerden<br />

jeder Stufe durch eine vollere <strong>und</strong> entfaltetere ... (ihren)<br />

Eigenwert besitzt" (Simmel 1907, S. 5). Die Alternative wäre in Schopenhauers<br />

Diktum zu sehen, daß das moderne Leben nur ein „Pendel zwischen<br />

Schmerz <strong>und</strong> Langeweile" ist <strong>und</strong> die angestrebte Stilisierung des Lebens<br />

nur ein Quietiv gegen seine Gleichgültigkeit <strong>und</strong> Leere.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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