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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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Die englischen Definitionen erklären vollauf, wie eng dieser Gebrauch<br />

in der Sozialwissenschaft mit der Doktrin der biologischen Evolution verknüpft<br />

ist, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts entstand. Dies<br />

gilt selbstverständlich auch für die deutschen Definitionen. Das Duden<br />

Fremdwörterbuch definiert die „Evolutionstheorie", eine direkte Anleihe<br />

aus dem Englischen, wie folgt: „Theorie von der Entwicklung aller Lebewesen<br />

aus niedrigen, primitiven Organismen."<br />

Wenn wir nun die beiden Worte verbinden, wie bei der Benennung dieses<br />

Kongresses (auf keinen Fall unüblich), <strong>und</strong> wir von „Gesellschaftlicher<br />

Entwicklung" sprechen, dann beschäftigen wir uns offensichtlich damit,<br />

wie sich eine Entität (eine Entität, die nicht der Staat ist, die jedoch nicht<br />

vom Staat getrennt ist <strong>und</strong> gewöhnlich mehr oder weniger die gleichen<br />

Grenzen mit ihm teilt) im Laufe der Zeit von einem niedrigen in einen höheren<br />

oder „komplexeren" Zustand entwickelt hat.<br />

Wo ist also der „Keim", von dem man diese Evolution ableiten kann,<br />

<strong>und</strong> wie weit muß man zurückgehen? Ich möchte kurz zwei mögliche Beispiele<br />

einer „Gesellschaft" erwähnen <strong>und</strong> einige naive Fragen dazu stellen.<br />

Ein Beispiel ist die deutsche Gesellschaft. Das zweite Beispiel ist die Gesellschaft<br />

Puerto Ricos. Es ist nicht meine Absicht, die reichhaltige Literatur gelehrter,<br />

öffentlicher Debatten zu diesen beiden Beispielen nochmals durchzugehen.<br />

Dies wäre eine monumentale Aufgabe im Falle des deutschen Beispiels,<br />

<strong>und</strong> auch im Falle Puerto Ricos wäre sie nicht gerade klein. Ich möchte lediglich<br />

aufzeigen, daß einige elementare Probleme im Gebrauch des Begriffs<br />

„Gesellschaft" in beiden Beispielen bestehen. Mir sind die Eigenheiten dieser<br />

beiden Fälle bekannt, <strong>und</strong> einige werden sicher sagen, daß sie in bestimmter<br />

Weise nicht „typisch" oder „repräsentativ" seien. Aber eine der geschichtlichen<br />

Realitäten ist, daß jedes Beispiel der Geschichte spezifisch <strong>und</strong> individuell<br />

ist, <strong>und</strong> ich bin, offen gesagt, skeptisch, ob es irgendwo repräsentative<br />

„Fälle" gibt. So fiel meine Wahl also auf diese beiden, weil Ihnen der deutsche<br />

Fall bekannt ist, <strong>und</strong> Sie vielleicht auf den Fall Puerto Rico gespannt<br />

sind, den die meisten von Ihnen wahrscheinlich nicht kennen.<br />

Erlauben Sie mir die einfache Frage: Wo ist die deutsche Gesellschaft?<br />

Befindet sie sich innerhalb der jetzigen Grenzen der B<strong>und</strong>esrepublik? Die<br />

offizielle Antwort scheint zu sein: Heute gibt es „zwei deutsche Staaten",<br />

jedoch nur „ein Volk". Diese eine „Nation" oder dieses eine „Volk" wird<br />

also offensichtlich so definiert, zumindest von einigen, daß sie/es die Menschen<br />

sowohl der B<strong>und</strong>esrepublik als auch der DDR mit einschließt.<br />

Wie steht es nun aber mit Österreich? Gehören die Österreicher zur<br />

deutschen „Gesellschaft", zum deutschen „Volk"? Österreich gehörte formell<br />

nur kurze Zeit, von 1938 bis 1945, zum deutschen Staat. Trotzdem<br />

wurde — wie Sie wissen — in der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts Österreichs<br />

Vereinigung mit einem damals nur potentiellen deutschen Staat als eine<br />

besondere Möglichkeit ausführlich diskutiert. Anscheinend gibt es unter anderem<br />

eine alte nationalistische Tradition, nach der Österreich als Teil der<br />

deutschen Gesellschaft definiert werden könnte.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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