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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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Bedingungen in das Geschehen ein, die sich selber nur mit einer langsameren<br />

Geschwindigkeit ändern als die Aktionen der Handelnden selbst. In diesen<br />

Bereich gehören z.B. ökonomische Krisen oder Abläufe eines Krieges<br />

oder eines Bürgerkrieges oder die längerfristigen Wandlungen, die durch<br />

die Einführung neuer Produktionstechniken hervorgerufen werden oder<br />

jene Vorgänge, die von den Betroffenen als Verfall der Sitten oder als Dekadenz<br />

einer politischen Handlungsgemeinschaft begriffen werden. Immer<br />

handelt es sich um Verlaufsfiguren, die von den transpersonalen Rahmenbedingungen<br />

beeinflußt werden, die aber schließlich so weit reichen können,<br />

auch die Rahmenbedingungen selbst zu verändern. Es handelt sich um<br />

prozessuale Verläufe, die aller Innovation zum Trotz so viel Analogieschlüsse<br />

zulassen, wie die Beispielreihe unserer Revolutionsprognosen gezeigt hat.<br />

Drittens gibt es eine Ebene von gleichsam metahistorischer Dauer, die<br />

deshalb noch nicht zeitlos ist. Man kann auf dieser Ebene hypothetisch solche<br />

anthropologische Konstanten ansiedeln, die sich mehr als alle anderen<br />

Faktoren dem geschichtlichen Wandlungsdruck entziehen. Aus diesem Bereich<br />

stammt eine Fülle von Erfahrungssätzen, die sich gr<strong>und</strong>sätzlich wiederholen<br />

lassen, die immer <strong>und</strong> immer wieder applikabel sind. Es handelt<br />

sich dann um Erfahrungssätze, denen eo ipso eine prognostische Wahrheit<br />

innewohnt.<br />

Hierhin gehört die einfache Form des Sprichwortes, die oft mit gegenläufigen<br />

Nutzanweisungen versehen wird, aber immer anwendungsfähig<br />

bleibt. Übermut kommt vor den Fall. Viele H<strong>und</strong>e sind des Hasen Tod.<br />

Viele Köche verderben den Brei. Freilich hängt die Anwendbarkeit davon<br />

ab, ob man sich auf Seiten der H<strong>und</strong>e, der Köche, der Hasen oder im Brei<br />

befindet. Aber der Rang solch scheinbar banaler Lebensweisheiten kann<br />

nicht unterschätzt werden. Sie tauchen auch in höher aggregierten Aussagen<br />

auf. Selbst wenn man einräumt, daß der Verlauf der Geschichte sich<br />

nicht nach unseren moralischen Urteilen <strong>und</strong> Sprichwortweisheiten richtet,<br />

bleibt der Übermut doch eine berechenbare, gelegentlich zäh<strong>mb</strong>are<br />

Größe im Spiel der Kräfte. Schließlich gibt es Kurzformeln, deren prognostische<br />

Wahrheit unwiderlegbar bleibt. So warnte Seneca Nero vergeblich:<br />

Er könne alle totschlagen, nur nicht seinen Nachfolger. Hier handelt<br />

es sich um eine formale Zukunftsaussage, die sich jederzeit inhaltlich ausfüllen<br />

läßt. Scheinbar zeitlos sind sie situativ applikabel. Stalin ahnte es,<br />

als er Trockij ermorden ließ. Nicht verhindern konnte er die Entstalinisierung<br />

durch seine Nachfolger.<br />

In einem höher aggregierten Zustand handelt es sich um metahistorischen<br />

Sätze, in denen die Bedingungen möglicher Geschichten, also auch<br />

möglicher Zukunft, reflektiert werden. Ich verweise hier auf die Reden<br />

des Thukydides oder auf die Thematik des Tacitus, der weniger die Tatsächlichkeit<br />

der Ereignisse beschreibt, als die Art, wie sie widersprüchlich<br />

erfahren wurden. Die Bürgerkriegsanalysen beider Autoren, die die Verläufe<br />

nicht nur schildern, sondern zugleich semantisch reflektieren <strong>und</strong> auf ihren<br />

Erfahrungsgehalt abfragen, führen zu Lehren der Geschichte, die nicht<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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