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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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schiedlich, sondern haben auch unterschiedliche Relevanz für den einzelnen.<br />

In einer Gebrauchswertökonomie unterhegen sie Bewertungs- <strong>und</strong><br />

Vergleichsmechanismen, die flexibel <strong>und</strong> begrenzt sind. Rasche Anpassungen<br />

an Produktsysteme sind schwierig. Lange Austauschketten sind nur mit<br />

erheblichem Aufwand möglich. In einer Marktökonomie hingegen werden<br />

alle Qualitäten auf eine einzige quantitative Struktur reduziert: auf den<br />

Preis. Die Freiheit des Zugangs zu jedem Gut unter der einzigen Bedingung<br />

der Zahlungskräftigkeit einerseits <strong>und</strong> die Simplizität der Bewertung des<br />

Gutes beim Tauschakt (nämlich nur durch den Preis) bedeuten eine erhebliche<br />

strukturelle Vereinfachung, eine Reduktion von Komplexität. Die<br />

Struktur des Warentausches macht die Verpflichtungen <strong>und</strong> Bande, die an<br />

die früheren Formen des Austausches geknüpft waren, obsolet. Das freie<br />

Zugangsrecht anonymer Personen tritt an die Stelle. Die Ablösung dieser<br />

Bande ist nicht widerspruchsfrei. Manche, die von den Verpflichtungen<br />

profitierten, sperren sich dagegen. Andere aber begrüßen die Warenökonomie<br />

als Befreiung: „Geld statt Verpflichtungen" war eine Parole von<br />

rebellischen Jugendlichen in einem westafrikanischen Dorf, die ich 1968<br />

kennenlernte. Meine Vorstellungen eines revolutionären antikapitalistischen<br />

Zurück zu Gemeinschaft <strong>und</strong> Solidarität wurden schwer erschüttert.<br />

Die höhere strukturelle Einfachheit des Warentausches <strong>und</strong> die Ablösung<br />

von auf Austausch bezogenen Verpflichtungen unterminiert jene <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Institutionen, die den Markt eindämmen könnten. Sie ermöglicht<br />

der Warenökonomie eine gleitende sozialstrukturelle Expansion,<br />

bei welcher der Kommodifikation der Arbeit zur Lohnarbeit eine besondere<br />

Bedeutung zukommt.<br />

Nicht nur Güter des täglichen Bedarfs <strong>und</strong> Produktionsmittel werden<br />

zu Waren; Liebe, Recht <strong>und</strong> Gottes Gnade werden zu Korruption, Prostitution<br />

<strong>und</strong> Ablaß (ohne damit unbedingt negativ gewertet zu werden). In<br />

den von Käuflichkeit dominierten Gesellschaftsformen liegen hier Zentren<br />

des Wirtschaftens. Die Macht „liegt nicht beim Kapital", vielmehr fließt<br />

das Geld zur Macht. Die vorgängige Machtverteilung bestimmt die Zentren<br />

der venalen Akkumulation — eine Akkumulation im Brautpreissystem, im<br />

Simonie- <strong>und</strong> Ablaßwesen, im politischen Bestechungswesen usw. Nicht<br />

Akkumulation in Produktionsmitteln, sondern venale Akkumulation strukturiert<br />

das Wirtschaftsleben. Mobutus Zaire ist nicht die Ausnahme, sondern<br />

charakteristisch für viele Situationen in der Dritten Welt.<br />

In dem Maße, in dem jedoch vertrauenstiftende Institutionen — Recht<br />

ebenso wie Fre<strong>und</strong>schaft oder religiös-moralische Kontrolle — selbst unbeständig<br />

werden, auf dem Markt dem je Meistbietenden zu Diensten sind,<br />

in dem Maße kann das Marktversprechen nicht mehr garantiert werden.<br />

Statt den Vertrag zu erfüllen, kann man Erzwingungsinstanzen bestechen;<br />

<strong>und</strong> schlechten Gewissens entledigt man sich durch Geldgaben an Gottes<br />

Institution. Nicht nur die reichen Händler <strong>und</strong> Produzenten, sondern auch<br />

die Armen empfinden Instabilität unter der Dominanz der Käuflichkeit<br />

als Leiden. Wenn alle persönlichen Beziehungen je nach Geldgebot fluk-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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