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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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daß sich dies allgemein formulieren läßt. Gruppen der hier gemeinten Art,<br />

von den neuen religiösen Bewegungen — seien sie nun östlicher oder sonstiger<br />

Provenienz — über die historische Lebensreform der Jahrh<strong>und</strong>ertwende,<br />

bis zu ihren aktuellen Nachfahren: Sie alle verheißen „Einheit", die Erlösung<br />

aus der Zerrissenheit, die Aufhebung der zersplitterten Lebenswelt, die<br />

Ordnung in der Zersplitterung. Dieser durchgängigen Verheißung entspricht<br />

offenbar das am häufigsten genannte, dauerhafteste Motiv bei den Anhängern<br />

auf das genaueste: Es ist die Suche nach dem einen Sinn, der den Teilen<br />

der äußeren <strong>und</strong> inneren Welt ihren angemessenen Platz in einem „Ganzen"<br />

zuweist. Unterschiede zwischen den Gruppen beziehen sich weitgehend<br />

auf die Mittel, auf die diagnostizierten Ursachen der „Sinnferne" <strong>und</strong><br />

infolgedessen auf ihre Überwindung <strong>und</strong> deren Begründung. Soweit dies<br />

zutrifft, haben wir hier offensichtlich das vor uns, was in der theoretischen<br />

Literatur die „Kosmisierung" (Berger), „heiliger Kosmos" (Luckmann)<br />

oder „conceptions of a general order of existence" (Geertz) genannt wird,<br />

mithin den konstituierenden Kernbestand von Religion.<br />

Freilich: diese Ordnung ist zunächst eine theoretische, verheißene. Ihre<br />

objektive, für jedermann erfahrbare Realisierung ist nur vorstellbar, wenn<br />

genügend viele, tendenziell natürlich alle Menschen den empfohlenen Heilsweg<br />

beschreiten. Nun ist dies ein Ziel, dessen Erreichen höchst unwahrscheinlich<br />

ist, als Erfolgskriterium also zu riskant, wenn nicht gänzlich unbrauchbar.<br />

Dieses Ziel wird daher überall ersetzt durch das „individuelle<br />

Erlebnis" der Ordnung der Welt, insbesondere der Einheit der Person, eine<br />

Verschiebung, die jener ähnelt, welche die puritanischen Sekten aufgr<strong>und</strong><br />

der „unbrauchbaren" harten Prädestinationslehre vornahmen. Auf diese<br />

6<br />

Weise wird die Zerrissenheit der Welt zwar nicht als solche beseitigt, aber<br />

für den, der dieses Erlebnis der Einheit in sich zu erzeugen weiß, verliert<br />

die fortbestehende Zerrissenheit der Welt ihre Schrecken, insofern sie auf<br />

die fehlende Einsicht anderer zurückgeführt werden kann.<br />

Daraus ergibt sich eine Problemlage, auf die die fraglichen Gruppen reagieren<br />

müssen. Erfahrungsgemäß sind nämlich Erfolgsbeweise für die dauerhafte<br />

Legitimation einer Lehre unerläßlich. Angesichts des prinzipiell freiwilligen,<br />

d.h.: selbst zu verantwortenden Beitritts der Mitglieder <strong>und</strong> angesichts<br />

der erheblichen Konkurrenz dieser Gruppen untereinander genügt offenbar<br />

der exemplarische Erfolgsbeweis durch religiöse Virtuosen, etwa des<br />

Kernpersonals, nicht. Unter diesen Bedingungen ist eine stabile Loyalitätssicherung<br />

ein Dauerproblem, das dadurch noch verstärkt wird, daß der Erfolgsbeweis<br />

in das individuelle Erleben der Mitglieder verlegt werden muß,<br />

also in eine höchst unzuverlässige Instanz. Die Beschreibungen hier in Frage<br />

stehender Gruppen bieten zahllose Belege für die lähmende Wirkung einer<br />

Konzeption, in der dem individuellen Erleben der Rang einer nicht hintergehbaren<br />

Instanz zugesprochen wird. Eine solche prekäre Lage läßt sich nur<br />

dann einigermaßen unter Kontrolle bringen, wenn es gelingt, das Erleben<br />

selbst zu objektivieren <strong>und</strong> in entsprechenden Verfahrensabläufen („Riten")<br />

zu institutionalisieren.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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