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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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„Herr S.: 'Meine freie Zeit verbringe ich größtenteils zu Hause. Seit ich arbeitslos bin,<br />

lese ich fast überhaupt nicht mehr. Man hat den Kopf nicht danach.' —<br />

Frau F.: 'Früher habe ich viel gelesen, ich habe die meisten Bücher in der Bibliothek gekannt.<br />

Jetzt lese ich weniger. Mein Gott, man hat jetzt andere Sorgen!'"<br />

Einerseits sind diese Kommentare in den Versuch einer verstehenden oder<br />

rationalen Erklärung der Veränderung der Lesegewohnheiten einbezogen<br />

<strong>und</strong> könnten insofern zusammen mit der Interpretation der Autoren auch<br />

als Beispiel für die unter 2. abgehandelten Versuche der verstehenden Deutung<br />

herangezogen werden. Auf der anderen Seite wird mit dem Aufgreifen<br />

der kausalen Deutungen der Untersuchten jedoch noch ein anderer Akzent<br />

gesetzt. Sie erfüllen im Argumentationszusammenhang der Autoren die<br />

Funktion eines zusätzlichen empirischen Beleges, der die Kausalinterpretation<br />

der Autoren stützt. Diese von den Autoren eher beiläufig <strong>und</strong> nicht<br />

sehr bewußt eingesetzte Variante der induktiven Absicherung von Kausalhypothesen<br />

wird von Mirra Komarovsky in einer qualitativen Studie über<br />

den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> Familienstruktur (1973<br />

— zuerst 1940) explizit aufgegriffen. Sie beschreibt unter dem Begriff des<br />

„discerning" eine Methode der Überprüfung von Kausalaussagen, die die<br />

Kausalinterpretationen der Befragten ausdrücklich berücksichtigt (vgl.<br />

1973, S. 1<strong>35</strong> ff.; vgl. zur Kommentierung auch die Einleitung Lazarsfelds<br />

<strong>und</strong> ebenfalls Barton <strong>und</strong> Lazarsfeld, 1979, S. 68 f.).<br />

Man kann die empirische Beweiskraft der kausalen Deutungen der Untersuchten<br />

sicher in unterschiedlicher Weise beurteilen. Kaum zu bestreiten<br />

ist meiner Ansicht nach jedoch, daß sie so oder so ein wichtiges sozialwissenschaftliches<br />

Datum sind. Denn auch wenn man den Kausalinterpretationen<br />

der Untersuchten mit ideologiekritischer Skepsis begegnet, bleiben sie<br />

als Teil der Situationsdefinition <strong>und</strong> als Informationshintergr<strong>und</strong>, der in<br />

verstehende oder rationale Handlungserklärungen eingeht, gleichwohl relevant.<br />

Die hier vorgestellten Varianten der Argumentation, mit der die Autoren<br />

der Marienthal-Studie die kausale Deutung der beschriebenen Phänomene<br />

der Resignation <strong>und</strong> Lähmung stützen, vermitteln sicher kein vollständiges<br />

Bild ihrer Argumentation. Trotzdem kann dieser Überblick doch<br />

dazu beitragen, tragende Elemente des zugr<strong>und</strong>eliegenden Erklärungskonzeptes<br />

zu verdeutlichen. Mit der Integration einer verstehenden <strong>und</strong> vergleichenden,<br />

mehr oder minder explizit quantifizierenden Betrachtungsweise<br />

steht die Marienthal-Untersuchung jener Auffassung von Erklärungen in<br />

der Soziologie am nächsten, wie sie von Weber in den „Soziologischen<br />

Gr<strong>und</strong>begriffen" vorgelegt wurde <strong>und</strong> bei der es um die Forderung geht,<br />

die verstehende <strong>und</strong> die statistische Argumentation — gegebenenfalls auch<br />

nur in vorsichtigen Annäherungen — miteinander zu verbinden: Die Art<br />

des Forschungszugangs macht es den Autoren möglich, reichhaltige Informationen<br />

zu Situationsdeutungen <strong>und</strong> Handlungsintentionen zu erheben,<br />

so daß empirisch abgestützte verstehende oder rationale Erklärungen gegeben<br />

werden können. Gleichzeitig ermöglicht es der an experimentellen An-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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