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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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<strong>und</strong> nicht zuletzt als Schuldfragen verrechnet werden, <strong>und</strong> er mußte davon<br />

ausgehen, daß dies auf der einen wie auf der anderen Seite tendenziös geschehen<br />

würde. Von daher ergab sich der Hang zu einer mindestens untergründigen<br />

Moralisierung der Argumentation, auch die Tendenzen zu ihrer<br />

taktischen Inszenierung. Es gab in dieser Lage kein Recht zur Unbekümmertheit.<br />

Unbekümmertheit aber braucht man für den Prozeß theoretischer Reflexion.<br />

Mit dem Versuch der Verallgemeinerung verläßt man den gut<br />

recherchierten Einzelfall, überzieht die gesicherte Erfahrung, bemächtigt<br />

sich auch des nur ungefähr Vergleichbaren, verdrängt dabei eine Fülle von<br />

im Einzelfall wichtigen Details. Theoriearbeit ist eine Art Ausschreitung,<br />

die ohne Skrupellosigkeit <strong>und</strong> Indifferenz gar nicht gelingen kann. Mir<br />

scheint, daß man in der Terrorismusforschung beim gegenwärtigen Stand<br />

der Dinge solche Ausdrucksformen einer inneren Distanz zum Gegenstand<br />

eher ermuntern als ihre unstrittige Eigenproblematik beschwören sollte.<br />

Allerdings entsteht sofort die Frage, ob Terrorismus als ein Phänomen<br />

besonderer Art für Theoriebildung überhaupt taugt. Walter Laqueur, einer<br />

der erfahrensten Empiriker der Terrorismusforschung, bestreitet dies, wenn<br />

er sagt: „Im Auftreten des Terrorismus läßt sich auch ein Zufallselement<br />

feststellen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e ist eine wirklich wissenschaftliche, prognostische<br />

Untersuchung in der Tat unmöglich." (Laqueur 1977, S. 51 f.). Nun<br />

ist es sicher richtig, daß Zufallsmomente sowohl in den Innenbereichen als<br />

auch in den Umwelten des Terrorismus eine besondere Rolle spielen. Terrorismus<br />

ist Ergebnis <strong>und</strong> fortlaufender Bestandteil von Konflikten, die in<br />

der Regel wenig institutionalisiert sind, also keine festen Normen <strong>und</strong> Formen<br />

besitzen (Neidhardt 1981, S. 245 ff.). Insofern gibt es in seiner Entstehung<br />

<strong>und</strong> in seinem Ablauf eine hohe Wahrscheinlichkeit von Überraschungen<br />

<strong>und</strong> Unwägbarkeiten — mit der Folge auch, daß einzelnen Personen <strong>und</strong><br />

ihren oft geheimnisvoll bleibenden Besonderheiten eine außerordentliche<br />

Prozeßbedeutung zukommt. Aber solche Merkmale eines Handlungssystems<br />

sind letztlich nur eine Gradfrage. Nichts ist ohne Zufall, <strong>und</strong> nichts ist nur<br />

Zufall. Insofern ist Theorie allemal möglich, nur muß sie den Zufallsmengen<br />

ihres Gegenstandsbereichs angemessen sein. Das heißt unter anderem: Sie<br />

muß mehr oder weniger Raum lassen für bloße Deskription <strong>und</strong> darf diese<br />

nicht desavouieren <strong>und</strong> verdrängen wollen. Manches läßt sich eben nur erzählen<br />

<strong>und</strong> nicht mehr erklären.<br />

Unabhängig davon — zweifelhaft ist, ob sich die Soziologie überhaupt<br />

auf jenen Aspekt des Terrorismus fixieren lassen sollte, den Walter Laqueur<br />

so resignativ anspricht, nämlich sein „Auftreten" — die Frage also: unter<br />

welchen Bedingungen <strong>und</strong> auf welche Weise er entsteht. Ohne diese Frage<br />

gering zu schätzen, läßt sich doch die andere Frage nach seinen Wirkungen<br />

als die für Soziologen vielleicht aufschlußreichere ansehen. Terrorismus als<br />

Stimulus! Wann immer <strong>und</strong> wo immer er auftritt, bedeutet er eine Aufstörung<br />

von Normalität, eine Beunruhigung eingepegelter Gleichgewichte. Er<br />

schafft Ausnahmezustände. Ist dies nicht verw<strong>und</strong>erlich, wenn man be-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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