07.03.2014 Aufrufe

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Eine weitere Lösungsmöglichkeit ist Kultivierung. Die Kultur aber folgt<br />

nach Simmel einem bestimmten Entwicklungsmuster, das den modernen<br />

Lebensstilen vorgegeben ist. Aus der naturgegebenen Energie der Seele entspringt<br />

ein doppelgleisiger Kulturprozeß: einmal als Produktion kultureller<br />

Objekte, zum anderen als Aneignung dieser objektiven Kultur durch den<br />

subjektiven Geist, als subjektive Kultur (vgl. Simmel 1900, S. 502ff <strong>und</strong><br />

Simmel 1911, S. 183ff). Weil der moderne Kulturprozeß nicht ohne Arbeitsteilung<br />

funktioniert, scheren Tempo, Umfang <strong>und</strong> Eigensinn der objektiven<br />

<strong>und</strong> subjektiven Kultur immer mehr auseinander, es kommt zur<br />

selbstverursachten „Tragödie der Kultur".<br />

Darauf reagiert der moderne Lebensstil u.a. mit Ästhetisierung. Auf<br />

die nicht bedeutungslose, aber „im tiefsten Gr<strong>und</strong>e auch nicht bedeutungsvoll^)"<br />

moderne Kulturwelt reagiert die (inhaltliche) Orientierung am<br />

Künstler. Die Faszination des Künstlerlebens, der Geniekult, die romantische<br />

Suche nach dem authentischen Selbst, alles das sind Facetten einer<br />

Ästhetisierung der Lebensstile, die sich letztlich am expressionistischen Bildungsideal<br />

orientieren. In dieser Linie Hegt auch Simmeis Versuch, durch<br />

ein „individuelles Gesetz" ein authentisches Leben zurückzugewinnen. Eine<br />

andere (mehr formal) angelegte Reaktionsweise ist die mehr oder weniger<br />

vollständige „Ästhetisierung der Lebensgestaltung" (Tenbruck 1958,<br />

S. 590). Die Leistung einer ästhetischen Lebenshaltung liegt nach Simmel<br />

darin, daß sie durch Interesselosigkeit an der inhaltlichen Vielfalt <strong>und</strong> gegenüber<br />

der realen Existenz der Kulturobjekte Distanz wahrt, die aber eben<br />

dadurch selektive Bezugnahmen ermöglicht <strong>und</strong> sich ggf. durch den Genuß<br />

der bloßen Form befriedigt (vgl. Simmel 1900, S. 22ff u. <strong>35</strong>2f; s. a. Hübner-<br />

Funk 1984).<br />

Diese Ästhetisierung kann sich in Blasiertheit <strong>und</strong> Reserviertheit äußern<br />

(vglt Simmel 1900, S. 264ff <strong>und</strong> Simmel 1957, S. 252f). Simmel vergleicht<br />

einen solchen ästhetischen Lebenstypus mit dem des Geizhalses, der Befriedigung<br />

aus der „vollbesessenen Potentialität, die niemals an ihre Aktualisierung<br />

denkt" (ebd.) gewinnt. Es ist die Möglichkeit sich zu kultivieren, die<br />

die ästhetische Freude aufkommen läßt, mithin ist der Lebensstil geprägt<br />

von den Mitteln, die das versprechen. Simmel schätzte die Kultur der Dinge,<br />

insbesondere das stilisierende Kunsthandwerk (vgl. Simmel 1908b), sehr<br />

hoch ein, sie sind ihm „notwendige Vorbedingung für ästhetische Genußfähigkeit"<br />

(Hübner-Funk 1984, S. 190). Aber er sieht auch die Gefahr, daß<br />

die ehrerbietige „Tragödie der Kultur" in die Kommödie von, wie wir heute<br />

sagen können, „Schöner Wohnen" abgleitet. Er läßt offen, ob die Ästhetisierung<br />

des Lebensstiles diese Tragödie kompensieren kann. Er zögert, die<br />

Seele noch „Herr im eigenen (kulturellen) Haus" (Simmel 1900, S. 529) zu<br />

nennen.<br />

Die Seele besitzt für Simmel keine substantielle Einheit (Simmel 1900,<br />

S. 84); sie ist nur durch sy<strong>mb</strong>olische Deutung zugänglich. Sie steht aber<br />

für die hartnäckige Sehnsucht nach Einheit <strong>und</strong> Versprechen auf Lebenssinn<br />

ein (a.a.O., S. 527ff <strong>und</strong> Simmel 1911, S. 184). Die kulturelle Über-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!