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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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estehende Weltsystem effektiv verändern könnten. Gegenwärtig besteht<br />

eine der Beschränkungen, wenngleich sicher nicht die einzige, darin, daß sie<br />

in ihren eigenen Analysen große Segmente der Ideologie des bestehenden<br />

Weltsystems integriert haben. Was die historischen Sozialwissenschaften in<br />

dieser Übergangskrise leisten können, ist deshalb ein Engagement, das gleichzeitig<br />

mit den Bewegungen sympathisiert <strong>und</strong> sich von ihnen absetzt. Wenn<br />

auch die Wissenschaft keine Praxis anbieten kann, so kann sie doch Einsichten<br />

vermitteln, die aus der Distanz entstehen, vorausgesetzt, daß die Wissenschaft<br />

nicht neutral ist. Wissenschaftler sind aber niemals neutral, <strong>und</strong> folglich<br />

ist auch die von ihnen produzierte Wissenschaft nicht neutral. Das<br />

Engagement, von dem ich spreche, ist selbstverständlich das Engagement<br />

für materiale Rationalität. Es ist eine Verpflichtung angesichts einer Lage,<br />

in der durch den Niedergang des historischen <strong>gesellschaftliche</strong>n Systems,<br />

in dem wir leben, eine kollektive Wahl möglich gemacht worden ist, die jedoch<br />

durch das Fehlen einer klar umrissenen alternativen <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Kraft erschwert wird.<br />

Rein intellektuell ausgedrückt bedeutet das in dieser Lage, daß wir unseren<br />

Begriffsapparat überdenken <strong>und</strong> von der ideologischen Patina des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts befreien müssen. Während wir versuchen, neue heuristische<br />

Gr<strong>und</strong>lagen zu schaffen, die vom Fehlen <strong>und</strong> nicht vom Vorhandensein<br />

materialer Rationalität ausgehen, werden wir in unserer empirischen <strong>und</strong><br />

theoretischen Arbeit radikal agnostisch sein müssen.<br />

Sie werden mir verzeihen, daß ich vor einem Kongreß deutscher Soziologen<br />

Max Weber zitierte. Wir kennen alle seine leidenschaftliche Rede an<br />

die Studenten von 1919 „Politik als Beruf". Aus dieser Rede klingt ein tiefer<br />

Pessimismus:<br />

Nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns, sondern zunächst eine Polarnacht von eisiger<br />

Finsternis <strong>und</strong> Härte, mag äußerlich jetzt siegen welche Gruppe auch immer. Denn:<br />

wo nichts ist, da hat nicht nur der Kaiser, sondern auch der Proletarier sein Recht verloren.<br />

Wenn diese Nacht langsam weichen wird, wer wird dann von denen noch leben,<br />

deren Lenz jetzt scheinbar so üppig geblüht hat? (1958, 547-48).<br />

Wir müssen uns fragen, ob die Polarnacht, die tatsächlich kam, wie Weber<br />

vorausgesagt hatte, schon hinter uns liegt oder noch Schlimmeres kommen<br />

wird. In beiden Fällen ist die einzig mögliche Schlußfolgerung, die wir ziehen<br />

sollten, diejenige, die Weber gezogen hat:<br />

Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft<br />

<strong>und</strong> Augenmaß zugleich. Es ist durchaus richtig, <strong>und</strong> alle geschichtliche Erfahrung bestätigt<br />

es, daß man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt<br />

nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre (1958, 548).<br />

Ich sagte, daß unsere Konzeptionen auf die intellektuellen Rätsel, die durch<br />

die Französische Revolution hervorgerufen worden waren, zurückgeführt<br />

werden können. Auch unsere Wunschvorstellungen <strong>und</strong> Lösungen stammen<br />

daher. Die berühmte Dreiheit von „liberte, egalite, fraternite" ist keine Beschreibung<br />

der Realität; sie hat die Strukturen der kapitalistischen Weltwirt-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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