07.03.2014 Aufrufe

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Bürokratie. Aus der Sicht der Zentralinstanz sind allerdings viele dieser Vorteile<br />

eher Nachteile, da sie die Kontrolle durch die Zentralinstanz abschwächen.<br />

Ein Mittelsmann, der durch keine kontrollierte Ausbildung geprägt<br />

wird, der ein Informationsmonopol über den von ihm verwalteten Bezirk<br />

besitzt, der nicht versetzt werden kann, <strong>und</strong> der keine Laufbahn vor sich<br />

hat, kann kaum von oben kontrolliert werden. In FWA waren die Dorf<strong>und</strong><br />

Kantonshäuptlinge solche Mittelsmänner.<br />

Liest man die Berichte der Kolonialbeamten, dann gewinnt man zunächst<br />

den Eindruck einer bürokratisch voll erfaßten Welt. In den Berichten<br />

finden sich genaue Zahlen über die Einwohner, über den Bestand an Rindern,<br />

Schafen, Ziegen, über die Erntemengen an Gr<strong>und</strong>nahrungsmitteln<br />

wie Hirse, Reis, Maniok usw. In Wirklichkeit waren diese Zahlen Erfindungen,<br />

bestenfalls Schätzungen. Sie waren oft überhöht, weil die Kolonialbeamten<br />

die Tendenz hatten, jährliche Steigerungsraten zu melden, um ihre<br />

Vorgesetzten zu beeindrucken.<br />

Die Kolonialbürokratie bewegte sich weitgehend in einer fiktiven Welt.<br />

Das führte manchmal zu Katastrophen, weil z.B. Dürren <strong>und</strong> Hungersnöte<br />

nicht richtig eingeschätzt wurden. Aber andererseits verlieh es der Bürokratie<br />

nach innen <strong>und</strong> außen eine Stabilität, die ihr langfristig den Sieg<br />

sicherte.<br />

Welchen praktischen Nutzen hatten Listen <strong>und</strong> Tabellen? Ich will dies<br />

am Beispiel der militärischen Rekrutierung zeigen, die im Militärstaat<br />

Preußen von zentraler Bedeutung war. Zu Beginn des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts gab<br />

es zwei Methoden der inländischen Rekrutierung. Das erste war ein Quotenverfahren.<br />

Jeder Kreis mußte ein bestimmtes Mindestkontingent liefern.<br />

Wie er das zustandebrachte, blieb ihm überlassen. Die Zahl der Soldaten,<br />

die auf diese Weise aufgebracht werden konnten, erwies sich aber als zu<br />

gering. Man mußte daher auch auf die Werbung zurückgreifen. Werbung war<br />

freilich ein euphemistischer Begriff, denn es handelte sich hier oft genug<br />

um Raub, bei dem auch Blutvergießen nicht ausblieb. Vor allem bei der<br />

Jagd nach „langen Kerls" war den Werbern jedes Mittel recht. Die Bauernsöhne<br />

ergriffen bisweilen die Flucht ins Ausland; manchmal wanderten die<br />

Bewohner ganzer Dörfer aus. Wer reich genug war, versuchte, sich durch<br />

eine Lösesumme freizukaufen; die Armen griffen zum Mittel der Selbstverstümmelung.<br />

Gelegentlich leisteten sie auch zusammen mit ihrem Herrn<br />

bewaffneten Widerstand gegen die Rekrutierung.<br />

Diese Methoden der Soldatenrekrutierung sind typisch beim Fehlen<br />

einer bürokratischen Regelung. Zuerst versucht man es im Rahmen intermediärer<br />

Herrschaft mit einem Quotenverfahren. Da die gelieferten Kontingente<br />

nicht ausreichen, wird die intermediäre Herrschaft durch eine<br />

despotische ergänzt.<br />

Als Folge dieses despotischen Rekrutierungssystems war ein Niedergang<br />

der bäuerlichen Landwirtschaft nahezu unvermeidlich. 1733 stellte daher<br />

Friedrich Wilhelm I. die Rekrutierung durch das Kantonsystem auf eine<br />

völlig neue Gr<strong>und</strong>lage. Von nun an war die Rekrutierung im Prinzip büro-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!