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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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lieb. Die Berechnung der Erbfallkonstellationen für den nächsten Krieg<br />

gehörte zur Dauerbeschäftigung frühneuzeitlicher Prognostik. Je mehr wir<br />

uns der eigenen Zeit nähern, desto schwieriger wird die Kunst kurzfristiger<br />

Prognosen, weil auch die längerwährenden Rahmenbedingungen der<br />

kurzfristigen Handlungsspielräume sich vervielfacht <strong>und</strong> verändert haben.<br />

Aber auch die transpersonalen Konstanten, die als Bedingungen die<br />

mittelfristigen Verläufe determiniert haben, haben sich seit r<strong>und</strong> 200 Jahren<br />

mit steigender Geschwindigkeit geändert. Technik <strong>und</strong> Industrie haben<br />

die Erfahrungsspannen verkürzt, die sich nur unter gleichbleibenden Voraussetzungen<br />

stabilisieren konnten. Die Voraussetzungen unserer Lebensverläufe<br />

ändern sich schneller als früher, selbst die Strukturen werden zum<br />

Ereignis, weil sie sich schneller wandeln. Der gute alte Satz, daß wir nicht<br />

für die Schule, sondern für das Leben lernen, hat seine Kraft verloren. Wir<br />

lernen nur noch, wie wir umlernen können. Und selbst das haben wir noch<br />

nicht gelernt. Im Hinblick auf unser Modell dreier Zeitschichten läßt sich<br />

sagen, daß ehedem langwährende Konstanten, die den Bedingungsrahmen<br />

mittelfristiger Verläufe <strong>und</strong> kurzfristiger Handlungszusammenhänge stabil<br />

hielten, selber unter erhöhten Wandlungsdruck geraten sind. Es gibt immer<br />

mehr Variablen, die hochzurechnen <strong>und</strong> aufeinander zu beziehen immer<br />

schwieriger wird. Deshalb hat sich, wissenschaftsgeschichtlich gesprochen,<br />

aus der Zunft der Historiker die der Soziologen herausdifferenziert. Die<br />

Frage danach, wie sich kurze, mittlere <strong>und</strong> lange Fristen zueinander verhalten,<br />

zwingt die Soziologen zur Prognose, ob sie wollen oder nicht. In<br />

historischer Perspektive sei mir deshalb noch ein Nachwort gestattet: Die<br />

prognostische Sicherheit müßte wieder steigen, wenn es gelingt, mehr Verzögerungseffekte<br />

in die Zukunft einzubauen, Verzögerungseffekte, die berechenbarer<br />

werden, sobald die ökonomischen <strong>und</strong> institutionellen Rahmenbedingungen<br />

unseres Handelns stetiger werden. Aber das ist vermutlich<br />

nur eine Utopie, die aus der bisherigen Geschichte nicht ableitbar ist.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, Teil 1, § 32, in Werke, hg. Weischedel,<br />

Darmstadt 1964, Bd. VI, S. 490.<br />

2 d'Argenson, Conside'rations sur le gouvernement ancien et pre'sent de la France,<br />

Yverdon 1764, S. 138 ff.<br />

3 Diderot, in: Raynal, Histoire Philosophique et Politique et du commerce des<br />

Europe'ens dans les deux Indes, Genf 1780, IV, S. 488 ff.<br />

4 Friedrich der Große, Werke, dt. hg. von G.B. Volz, Berlin 1912, Bd. 7, S. 267 f.<br />

(Kritik des 'Systems der Natur' von Holbach, 1770).<br />

5 Herodot, Hist. III, 79 ff.<br />

6 Wieland, Der Neue Teutsche Merkur, 2. Stük, März 1798, in: Sämtl. Werke, Leipzig<br />

1857, Bd. 32, S. 53 ff.<br />

7 Wieland, Das Geheimnis des Kosmopolitenordens (1788), Sämtl. Werke, Bd. 30, S.<br />

422.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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