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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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angesehen, ihre „Rechnungen [mit der Klasse der Gr<strong>und</strong>eigentümer] zu begleichen"<br />

(S. 33), die „von den puertoricanischen Massen als das empf<strong>und</strong>en<br />

wurden, was sie tatsächlich waren: Ausländer <strong>und</strong> Ausbeuter" (S. <strong>35</strong>).<br />

Dann ist da noch das vierte Stockwerk, dessen Entstehung nicht als ein<br />

Ergebnis der kulturellen „Nordamerikanisierung", sondern eher als das Ergebnis<br />

der wirtschaftlichen Veränderungen ab 1940 zu betrachten ist. Am<br />

Anfang führte dies zu einer „Modernisierung innerhalb der Abhängigkeit"<br />

(S. 41) der puertorikanischen Gesellschaft, später jedoch, in den 70er Jahren,<br />

zum „spektakulären <strong>und</strong> nicht wieder gutzumachenden Zusammenbruch"<br />

(S. 40) des vierten Stockwerkes. Die weitere Komplikation, daß die<br />

Puertoricaner seit den 1940er Jahren massiv in die kontinentalen Vereinigten<br />

Staaten migrieren, <strong>und</strong> daß ein Großteil aller Puertoricaner außerhalb<br />

von Puerto Rico geboren wurde <strong>und</strong> lebt, wird von Gonzalez nicht direkt<br />

untersucht. Gehören auch diese Menschen noch zur puertoricanischen Gesellschaft,<br />

<strong>und</strong> wenn dies so ist, für wie lange noch?<br />

Ich zitiere Gonzalez weder um die Zukunft Puerto Ricos zu erörtern,<br />

noch um uns die tiefgründigen sozialen Spaltungen in unseren sogenannten<br />

Gesellschaften vor Augen zu führen; diese Spaltungen sind ganz sicher Klassenspaltungen;<br />

häufig (oder sogar meistens) jedoch sind sie von ethnischen<br />

Spaltungen überlagert <strong>und</strong> mit ihnen verb<strong>und</strong>en. Ich zitierte den Fall Puerto<br />

Rico, wie vorher den Fall Deutschland, eher um den Wechsel <strong>und</strong> die anfechtbaren<br />

Definitionen der Grenzen einer „Gesellschaft" <strong>und</strong> den engen<br />

Zusammenhang solcher wechselnden Definitionen mit den historischen Ereignissen,<br />

die nicht primär ein Ergebnis einer der „Gesellschaft" intrinsischen<br />

Entwicklung sind, hervorzuheben.<br />

Das gr<strong>und</strong>legende Falsche am Begriff „Gesellschaft" ist die Konkretisierung<br />

<strong>und</strong> somit die Kristallisierung sozialer Phänomena, deren wirkliche Bedeutung<br />

nicht in ihrer Solidarität, sondern gerade in ihrer Fluidität <strong>und</strong> ihrer<br />

Geschmeidigkeit liegen. Der Begriff „Gesellschaft" impliziert, daß wir zur<br />

Analyse eine greifbare, <strong>und</strong> dennoch sicher auch eine sich „entwickelnde"<br />

Wirklichkeit vor uns haben. Tatsächlich haben wir in erster Linie ein rhetorisches<br />

Konstrukt, <strong>und</strong> deshalb, wie Lorenz von Stein sagt, einen „schwierigen<br />

Begriff" der Staatswissenschaft (in diesem Fall der politischen Philosophie)<br />

vor uns. Wir haben jedoch kein analytisches Werkzeug für die Summierung<br />

oder Zerlegung unserer sozialen Prozesse.<br />

Eines der Welt-Sozialwissenschaft zugr<strong>und</strong>eliegenden Elemente war in<br />

den letzten Jahren eine spezifische Lektüre der modernen europäischen Geschichte.<br />

Diese Lektüre der Geschichte ist nicht nur auf professionelle Geschichts-<br />

<strong>und</strong> Sozialwissenschaftler begrenzt. Sie beinhaltet eine tiefliegende<br />

Gr<strong>und</strong>lage für unsere gemeinsame Kultur, die allen in der Sek<strong>und</strong>arstufe<br />

unseres Schulsystems vermittelt wird, <strong>und</strong> ist eine gr<strong>und</strong>legende Voraussetzung<br />

für das Verständnis der sozialen Welt. Sie war nicht Gegenstand<br />

größerer Kontroversen; sie war eher das Gemeingut der beiden wichtigsten<br />

Weltanschauungen des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts, des Liberalismus <strong>und</strong> Marxismus,<br />

die andererseits in starkem Gegensatz zueinander standen.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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