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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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1. Die Suspendierung der natürlichen Anschauung der Dinge <strong>und</strong> des<br />

Untersuchungsauftrages<br />

Was hiermit gemeint ist, bedarf, so denke ich, einer längeren Erläuterung.<br />

Die Soziologie kennzeichnet über ihre verschiedenen theoretischen Positionen<br />

hinweg ein, wie P.L. Berger (1963, S. 38) es m.E. treffend bezeichnet<br />

hat, methodologisch f<strong>und</strong>iertes spezifisches Bewußtsein, das die Dinge nicht<br />

so nimmt, wie sie sind oder erscheinen. Hiermit ist offensichtlich mehr gemeint<br />

als eine im engeren Sinne ideologiekritische Attitüde. Eine der zentralen<br />

Pointen funktionalistischer Analysen besteht in der systematischen<br />

Suche nach den Ironien sozialer Strukturen <strong>und</strong> Institutionen, für die sie<br />

das Konzept der latenten Funktionen bereitgestellt hat. Marxistische Gesellschaftstheorie<br />

hat seit ihren Anfängen bis auf den heutigen Tag den Impetus<br />

durchgehalten, die Dinge von ihrem Kopf auf die Füße stellen zu wollen.<br />

Im Kontext interpretativer Theorieansätze schließlich wird die Suspendierung<br />

bzw. Einklammerung der Wirklichkeit bis zu ihrer vollständigen<br />

Verflüchtigung methodologisch radikalisiert. Wirklichkeit ist nicht unmittelbar<br />

<strong>und</strong> jungfräulich zur Hand, sondern sie wird uns nur über Sprache, Sy<strong>mb</strong>ole<br />

<strong>und</strong> Zeichen zugänglich <strong>und</strong> verfügbar. Diese aber sind den Dingen der<br />

Wirklichkeit nicht schlicht zu entnehmen. Sie werden vielmehr an sie<br />

herangetragen <strong>und</strong> gehen mit ihnen eine Verbindung ein, die mehr oder<br />

weniger eng ist <strong>und</strong> sich nach Graden der Löslichkeit unterscheidet. In diesem<br />

Sinne hat der Linguist F.D. Saussure die Sprache als Konvention bezeichnet.<br />

Was das auch für die Sprache meint, ist in unnachahmlicher Weise<br />

von L. Carroll in einem Dialog zwischen seinen Märchenfiguren Alice <strong>und</strong><br />

Goggelmoggel ausgedrückt: „Aber" — so beginnt dieser Dialog — „Glocke"<br />

heißt doch gar nicht ein „einmalig schlagender Beweis", wandte Alice ein.<br />

„Wenn ich ein Wort gebrauche", sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem<br />

Ton, „dann heißt es genau, was ich für richtig halte — nicht mehr <strong>und</strong> nicht<br />

weniger". „Es fragt sich nur", sagte Alice, „ob man Wörter einfach etwas<br />

anderes heißen lassen kann". „Es fragt sich nur", sagte Goggelmoggel, „wer<br />

der Stärkere ist, weiter nichts!". Ganz offensichtlich ist es die Dimension<br />

der Macht, die hier ins Spiel kommt <strong>und</strong> in eine Nähe zur Sprache <strong>und</strong><br />

ihren einzelnen Elementen gebracht wird. Und diese Nähe, wird man einmal<br />

auf sie gestoßen, macht bekanntlich sprachlos, was nichts anderes heißt, als<br />

die Logik der Sprache durch die sozialer Beziehungen <strong>und</strong> Verhältnisse auszutauschen.<br />

Bei Carroll heißt es dann auch weiter: „Alice war viel zu verwirrt,<br />

um darauf noch eine Antwort zu finden, <strong>und</strong> so sprach Goggelmoggel<br />

nach kurzem Stillschweigen weiter".<br />

Die Analyse des Terrorismus war von vornherein eingebettet in einen<br />

Kampf um die angemessenen Kategorien, Begriffe <strong>und</strong> Interpretationen. Sie<br />

werden sich vielleicht noch daran erinnern, daß es eine bis ins Parlament<br />

hineingetragene <strong>und</strong> mit großen emotionellen <strong>und</strong> politischen Investitionen<br />

gespickte Diskussion darüber gab, ob man die terroristischen Täter als<br />

Bande, Vereinigung oder schlicht als Gruppe zu bezeichnen habe. Wohl-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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