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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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der Prognostik oszilliert zwischen sicheren <strong>und</strong> gewissen Rahmenbedingungen<br />

<strong>und</strong> solchen, die sich prozessual verändern, um im Feld politischer Aktionen<br />

vergleichsweise unsicher zu sein. Aber allemal zieht Prognostik ihre<br />

Evidenz aus der bisherigen Erfahrung, die wissenschaftlich verarbeitet wird<br />

<strong>und</strong> die hochzurechnen eine Kunst der Ko<strong>mb</strong>ination vielfältiger Erfahrungsdaten<br />

darstellt.<br />

Als Historiker sind wir in der Lage, eingetroffene Prognosen daraufhin<br />

zu befragen, warum sie sich erfüllt haben. Als Historiker wissen wir aber<br />

auch, daß in der Geschichte immer mehr geschieht oder weniger als in den<br />

Vorgegebenheiten enthalten ist. Insofern ist die Geschichte immer neu <strong>und</strong><br />

überraschungsschwanger. Wenn es gleichwohl eintreffende Voraussagen<br />

gibt, so folgt daraus, daß die Geschichte nie völlig neu ist, daß es offensichtlich<br />

längerfristige Bedingungen oder gar dauerhafte Bedingungen gibt, in<br />

deren Spielraum sich das jeweils Neue einzustellen pflegt. Jede einzelne Geschichte,<br />

in die wir verstrickt sind, erfahren wir als einmalig, aber die Umstände,<br />

unter denen sich die Einmaligkeit einstellt, sind selber keineswegs<br />

neu. Es gibt Strukturen, die sich durchhalten <strong>und</strong> es gibt Prozesse, die anwähren:<br />

Beide bedingen <strong>und</strong> überdauern die jeweiligen Einzelereignisse, in<br />

denen sich Geschichte vollzieht. Anders gewendet, es gibt verschiedene<br />

Geschwindigkeiten des Wandels.<br />

Geographische Bedingungen wandeln sich gar nicht oder nur kraft der<br />

technischen Beherrschung eben dieser geographischen Voraussetzungen<br />

menschlichen Tuns. Rechtliche <strong>und</strong> institutionelle Bedingungen wandeln<br />

sich ebenfalls langsamer als die politischen Aktionen, die sich dieser rechtlichen<br />

<strong>und</strong> institutionellen Bedingungen bedienen. Verhaltensweisen <strong>und</strong><br />

Mentalitäten wandeln sich ebenfalls langsamer als die Kunst, sie ideologisch<br />

oder propagandistisch zu verändern. Politische Machtkonstellationen wandeln<br />

sich ebenfalls langfristiger als ihre tatsächliche Veränderung in Kriegen<br />

oder Revolutionen auf beschleunigte Weise sichtbar macht.<br />

Auch wenn die konkrete Geschichte jeweils einmalig bleibt, gibt es verschiedene<br />

Schichten der Veränderungsgeschwindigkeit, die wir theoretisch<br />

auseinanderhalten müssen, um Einmaligkeit <strong>und</strong> Überdauern aneinander<br />

messen zu können. Wenn wir aber davon sprechen, daß sich geographische,<br />

institutionelle, rechtliche oder mentalitätsgeb<strong>und</strong>ene Bedingungen durchhalten,<br />

so sind wir genötigt, ihnen im konkreten Vollzug der diachronen<br />

Zeitverläufe den Charakter der Wiederholung zuzumessen. Der Brief, den<br />

ich morgens um 9.00 Uhr empfange, mag eine freudige oder traurige Nachricht<br />

enthalten, die unüberholbar oder unüberbietbar ist. Aber die Postauslieferung<br />

morgens um 9.00 Uhr vollzieht sich von Tag zu Tag, dahinter steht<br />

eine Organisation, deren Stabilität in der Wiederholung ihrer eingespielten Regeln<br />

enthalten ist, deren finanzielles Polster durch die wiederholte Fortschreibung<br />

der budgetmäßig erfaßten postalen Einnahmen ermöglicht wird. Dieses<br />

Beispiel läßt sich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens ausdehnen.<br />

Um meine These zu präzisieren: Prognosen sind nur möglich, weil es<br />

formale Strukturen in der Geschichte gibt, die sich wiederholen, auch wenn<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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