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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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Wichtig ist dabei, daß Krankheit ein perspektivischer Begriff bleibt, sie ist<br />

also etwas anderes für den Patienten als für den Arzt <strong>und</strong> wiederum verschieden<br />

aus <strong>gesellschaftliche</strong>m Blickwinkel. Der Patient erleidet Einschränkungen<br />

seines Wohlbefindens <strong>und</strong> seiner üblichen Handlungskapazität. Was<br />

dabei letzlich in seiner „Laiendefinition" als Krankheit angesehen wird, unterliegt<br />

einem gewissen Interpretationsspielraum, der noch im Vor-Patienten-Stadium<br />

in gemeinsamen alltagsweltlichen prä-diagnostischen Bemühungen<br />

unter Familienmitgliedern, Bekannten oder Arbeitskollegen durchschritten<br />

wird. Wird in einem solchen Feststellungsprozeß „Krankheit" als<br />

Ursache der erfahrenen Einschränkungen angenommen, geht in modernen<br />

Gesellschaften die weitere diagnostische <strong>und</strong> therapeutische Legitimität an<br />

den Arzt. Aus dessen Perspektive ist Krankheit Resultat somatischer Fehlfunktionen,<br />

nach bio-physischen Merkmalen diagnostizierbar <strong>und</strong> je nachdem<br />

durch therapeutische Interventionen kontrollier- oder heilbar. Es ist<br />

wichtig, sich klarzumachen, daß in den zivilisierten Gesellschaften, die ein<br />

medizinisches Handlungs- <strong>und</strong> Wissenssystem professionell ausgebildet haben,<br />

die primäre Definitionslegitimität über Krankheit beim Arzt, bzw. in<br />

den zwischen Arzt <strong>und</strong> Patient stehenden Institutionen der Krankenpflege<br />

(z.B. Krankenhaus, medizinische Praxis) liegt. Die Gesellschaft — besser <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Organisationen — haben hier dem Arzt ein weitreichendes<br />

Mandat zugebilligt, um das der „subjektiv-vermeintliche" Kranke nicht<br />

herumkommt, wenn er öffentlich als Kranker anerkannt werden will <strong>und</strong><br />

bestimmte Privilegien (wie etwa Arbeitsbefreiung, Berentung oder Leistungen<br />

aus Organisationen der Krankenversorgung) in Anspruch nehmen will.<br />

Schließlich hat jede Gesellschaft spezifische Vorstellungen davon entwikkelt,<br />

welche sozialen Fehlleistungen mit dem Begriff Krankheit belegt werden<br />

können, die durchaus nicht mit der Krankheitsdefinition des Patienten<br />

oder des Arztes übereinstimmen müssen. Daß z.B. Alkoholismus oder bestimmte<br />

psychische Probleme als Krankheiten eingestuft <strong>und</strong> angegangen<br />

werden können, hat sich in verschiedenen <strong>gesellschaftliche</strong>n Bereichen<br />

unterschiedlich schnell bzw. langsam durchgesetzt.<br />

Diese wenigen Bemerkungen sollen genügen, um das relationale Krankheitsmodell<br />

vorzustellen. Es ist komplexer als ein rein somatisches Modell<br />

<strong>und</strong> wird somit der Sache gerechter. Andererseits läßt es viele Wünsche bei<br />

der Suche nach differenzierten Beschreibungskategorien offen. Der Eck-<br />

Begriff „Gesellschaft" ist zu diffus <strong>und</strong> muß jeweils gefüllt werden. Das<br />

Definiendum „Krankheit" wirkt so zu statisch, eine Auffächerung in ein<br />

Schichtenmodell mit „Ges<strong>und</strong>erhaltung", „Krankheits<strong>entwicklung</strong>" <strong>und</strong><br />

„Krankheitsbewältigung" als zu definierenden Zentralbegriffen würde dem<br />

Prozeßcharakter des Krankengeschehens gerechter <strong>und</strong> zu Variationen in<br />

den Eck-Begriffen führen. Dies soll hier nicht durchexerziert werden.<br />

Die Erweiterungen des Modells in den folgenden Ausführungen beinhalten<br />

soziale <strong>und</strong> biographische Faktoren chronischer Krankheiten, stellen<br />

also Ausdifferenzierungen der Patienten- <strong>und</strong> Gesellschaftsperspektive dar.<br />

Wie sich sogleich zeigen wird, kennzeichnen „sozial" <strong>und</strong> „biographisch"<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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