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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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wir wissen, überrollte dieses theoretische Konstrukt die Welt in den folgenden<br />

zwei Jahrh<strong>und</strong>erten nach der Französischen Revolution, <strong>und</strong> es gibt<br />

heute wenige, die dies bestreiten, trotz all der Versuche der konservativen<br />

Theoretiker von Burke <strong>und</strong> de Maistre an, diese Doktrin herabzusetzen,<br />

<strong>und</strong> trotz der zahlreichen Fälle, in denen die Volkssouveränität de facto<br />

ignoriert wurde.<br />

Die Theorie, daß die Souveränität beim Volke liegt, wirft zwei Probleme<br />

auf. Erstens müssen wir wissen, wer <strong>und</strong> wo das Volk ist, d.h., wer<br />

die „Bürger" eines „Staates" sind <strong>und</strong> sein sollten. Ich erinnere Sie daran,<br />

daß das Kernwort der ehrfürchtigen Anrede auf dem Höhepunkt der<br />

Französischen Revolution das Wort „Citoyen" war. Der „Staat" jedoch<br />

trifft die Entscheidung, wer die „Bürger" sind, <strong>und</strong> vor allem entscheidet<br />

er, wer die vollwertigen Mitglieder des Gemeinwesens sind. Selbst heute<br />

ist nicht jeder in einem Staat lebende Mensch ein Bürger dieses Staates<br />

oder ein Wähler in diesem Staat. Die zweite Frage ist, wie man den Willen<br />

des Volkes erkennt. Dies ist sogar noch schwieriger als das erste Problem.<br />

Es ist wohl nicht sehr übertrieben, wenn ich behaupte, daß sich ein sehr<br />

großer Teil des historisch <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Unternehmens im<br />

19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert mit der Lösung dieser zwei Fragen beschäftigte,<br />

<strong>und</strong> daß das wichtigste dafür benutzte begriffliche Werkzeug die Idee ist,<br />

daß da eine Sache genannt „Gesellschaft" existiert, die durch ein verwickeltes<br />

— teils sy<strong>mb</strong>iotisches, teils antagonistisches — Verhältnis mit etwas, das<br />

„Staat" genannt wird, verknüpft ist. Wenn Sie dennoch wie ich das Gefühl<br />

haben, daß wir diese zwei Fragen nach ungefähr 150 Jahren nicht sehr<br />

gut gelöst haben, so liegt die Ursache vielleicht darin, daß wir uns nicht<br />

sehr adäquate begriffliche Werkzeuge geschaffen haben. Wenn dies der<br />

Fall ist, dann sollte man analysieren, warum dies geschehen ist: hierzu<br />

will ich kommen.<br />

Lassen Sie uns einen kurzen Blick auf das andere Wort des Titels,<br />

auf das Wort „Entwicklung", werfen. Auch Entwicklung hat sehr viele<br />

Bedeutungen. Die ihrem Gebrauch nach bei uns wichtigste im Oxford<br />

English Dictionary lautet wie folgt: „the growth or unfolding of what<br />

is in the germ: (b) of races of plants and animals." Das Oxford Englisch<br />

Dictionary verfolgt diesen Gebrauch nur bis 1871 zurück, bis zu einem<br />

sozialwissenschaftlichen Werk, Tylors Primitive Culture, Vol. I. Tylor<br />

wird wie folgt zitiert: „Its various grades may be regarded as stages of<br />

development or evolution, each the outcome of previous history" „Entwicklung",<br />

fügt das OED noch hinzu, ist „the same as Evolution".<br />

In deutschen Wörterbüchern finden wir etwas Ähnliches. Der Große<br />

Duden scheint fast jeden Gebrauch in unserem Sinne zu vermeiden, bis<br />

er zur Zusammensetzung „Entwicklungsgesetz" kommt, welche — wie<br />

er sagt — sich auf „Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft" bezieht. Das DDR Wörterbuch<br />

behandelt die Sache ebenfalls indirekt, mittels eines Beispiels,<br />

„die kulturelle, <strong>gesellschaftliche</strong>, geschichtliche, politische, ökonomische,<br />

soziale Entwicklung unseres Volkes."<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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