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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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VOLKSZÄHLUNG UND BÜROKRATISCHE HERRSCHAFT<br />

IN BAUERNSTAATEN<br />

Gerd Spittler<br />

Die Diskussion über die Volkszählung hat seit langer Zeit wieder den Blick<br />

darauf gelenkt, daß Volkszählungen keine neutralen technischen Erhebungen<br />

sind, sondern daß sie auch eine große Bedeutung als Kontrollinstrument<br />

haben können. Diese Diskussion hat freilich eher sy<strong>mb</strong>olischen Charakter.<br />

Im Kontext der vielfältigen Sammlung <strong>und</strong> Speicherung von Informationen<br />

kommt der Volkszählung in Industriegesellschaften keine besondere Bedeutung<br />

zu. In Bauernstaaten dagegen kann sich eine bürokratische Herrschaft<br />

zunächst nur mit Hilfe solcher Volkszählungen etablieren. Diese sind ein<br />

unerläßliches Instrument der Durchsetzung ihres Herrschaftsanspruches,<br />

sowohl gegenüber der Bevölkerung wie gegenüber konkurrierenden Machthabern.<br />

Wenn ich im folgenden europäische Bauernstaaten des 18. mit afrikanischen<br />

Bauernstaaten des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts vergleiche, dann soll das nicht<br />

heißen, daß zwischen ihnen keine Unterschiede bestehen. Ich übersehe<br />

nicht, daß die zeitliche Differenz <strong>und</strong> die koloniale <strong>und</strong> neokoloniale Abhängigkeit<br />

ihr eigenes Gewicht besitzen. Dennoch erscheint es mir gerechtfertigt<br />

<strong>und</strong> sinnvoll, für bestimmte Teilbereiche Vergleiche vorzunehmen.<br />

Hier geht es vor allem darum, zu zeigen, wie eine staatliche Bürokratie mit<br />

den Problemen fertig wird, die sich aus einer Bauerngesellschaft ergeben.<br />

Merkwürdigerweise bestand die Hauptaktivität der Kolonialbeamten in<br />

Französisch Westafrika in einer sehr simplen Tätigkeit: Sie verbrachten ihre<br />

Arbeitszeit vor allem damit, die Leute in ihrem Distrikt zu zählen <strong>und</strong> ihre<br />

Namen aufzuschreiben. In der Regel delegierten sie diese Aufgabe nicht an<br />

Untergebene, sondern führten sie selbst durch. Sie ritten wochen- <strong>und</strong><br />

monatelang auf einem Pferd durch die Dörfer, versammelten die Einwohner<br />

<strong>und</strong> zählten sie. Nur in seltenen Fällen kamen sie soweit, daß sie den Namen<br />

jedes einzelnen aufschreiben konnten.<br />

Es handelte sich hier keineswegs um einen einmaligen Zensus, sondern<br />

um einen Prozeß, der die ganze Kolonialzeit über andauerte. Es war eine<br />

wahre Sisyphusarbeit. Denn trotz aller Anstrengungen gelang es der Kolonialverwaltung<br />

nicht, eine zuverlässige Volkszählung zustandezubringen.<br />

Der Zensus wurde zunächst als sogenannter numerischer Zensus (recensement<br />

numerique) durchgeführt. Im einfachsten Fall zählt man die Zahl der<br />

Hütten <strong>und</strong> multiplizierte dies mit der vermuteten Anzahl von Hüttenbewohnern.<br />

Oder man versammelte die Familienvorstände <strong>und</strong> addierte aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer Angaben alle Familienmitglieder. Bestenfalls trieb man die ge-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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