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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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der Primat der lebenspraktischen Erfahrung vor der wissenschaftlichen Erkenntnis<br />

begründet; Erfahrungswissenschaft rekonstruiert immer nur, was<br />

die Lebenspraxis selbst in konkreten Entscheidungssituationen erfahrbar<br />

macht. Das methodisch kontrollierte wissenschaftliche Experiment ist<br />

nichts anderes als eine gedankenexperimentell konstruierte Simulation von<br />

Handlungssituationen <strong>und</strong> erfährt darin zugleich auch seine Grenze. Die<br />

Wirkung der inzwischen viel berufenen Verwissenschaftlichung des Alltags<br />

beruht, in diesem Lichte gesehen, genau darin, daß sie das Bewußtsein vom<br />

Primat der lebenspraktischen Erfahrung tendenziell auflöst <strong>und</strong> damit auch,<br />

in einer veränderten Form von Entfremdung innerhalb der Dialektik der<br />

Aufklärung, die lebenspraktische Handlungsautonomie selbst.<br />

Diese Auslegung von Lebenspraxis wird nicht nur in der gegenwärtigen<br />

Gesellschaft, sondern gerade auch in der Soziologie mit einem gewissen<br />

Mißtrauen betrachtet. Man erblickt darin gern Anzeichen für Irrationalismus<br />

<strong>und</strong> Dezisionismus. Nicht selten wird eingewandt, was schon gegen<br />

die „Geworfenheit" <strong>und</strong> die darin enthaltene Heroisierung des Individuums<br />

in seinem einsamen Entscheidungszwang (innerhalb des Existentialismus)<br />

vorgebracht wurde. Verwiesen wird dann auf die sozial institutionalisierten,<br />

Entscheidungen schon vorweg bestimmenden Handlungsorientierungen <strong>und</strong><br />

darauf, daß der normale Alltagsmensch die widersprüchliche Einheit von<br />

Entscheidungs- <strong>und</strong> Begründungszwang deshalb nicht als beunruhigend erfahre,<br />

weil selbstverständlich geltende Relevanzsysteme <strong>und</strong> Erwartungshorizonte<br />

schon immer einen hinreichenden Vorrat an akzeptablen Begründungen<br />

zur Verfügung stellten, ja von sich aus überhaupt erst die Entscheidungssituation<br />

erfahrbar machten.<br />

Einwände dieser Art verkennen den strukturalistischen Charakter der<br />

Argumentation, deren ich mich hier bediene <strong>und</strong> sehen nicht, daß solche<br />

wie selbstverständlich geltenden Orientierungen <strong>und</strong> Relevanzsysteme als<br />

Entscheidungsroutinen gerade in Reaktion auf die dialektische Struktur von<br />

Lebenspraxis eingerichtet worden sind, um das prinzipiell handlungsautonome<br />

Individuum zu entlasten, daß aber die gr<strong>und</strong>legende Struktur von<br />

Lebenspraxis als widersprüchlicher Einheit dadurch keineswegs aufgehoben<br />

ist, sondern die Konstitution von Routinen <strong>und</strong> Orientierungen als Formen<br />

eines praktikablen Umgangs mit ihr allererst erklärt. Der referierte Einwand<br />

verwechselt mithin Wesen <strong>und</strong> Erscheinung in der Strukturierung sozialer<br />

Realität.<br />

Vor allem aber verschütten Einwände dieser Art den Blick auf eine einfach<br />

zu fassende, zentrale Dimension des historischen Prozesses der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Rationalisierung <strong>und</strong> ihrer Dialektik. Sieht man nämlich die<br />

widersprüchliche Einheit von Begründungs- <strong>und</strong> Entscheidungszwang als die<br />

strukturale Dialektik von Lebenspraxis überhaupt an, in der material sowohl<br />

das spezialisierte Denken wie die — als soziales Handeln gefaßte —<br />

wissenschaftliche Erkenntnis <strong>und</strong> professionalisierte Kunst als spezialisierte<br />

Formen der Kritik von lebenspraktisch geb<strong>und</strong>ener Alltagserfahrung letztlich<br />

f<strong>und</strong>iert sind, dann ist nicht nur die Entfaltung dieser Dialektik selbst<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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