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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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die Lehre systematisierten <strong>und</strong> das Ritual vereinheitlichten, gefestigt, sondern<br />

auch von fähigen Verwaltungsspezialisten. Darauf folgte eine Phase,<br />

die durch die Entdifferenzierung der Gesellschaftsordnung gekennzeichnet<br />

war. Während des ganzen Frühmittelalters entwickelte sich die Wirtschaft<br />

auf eine einfachere Organisationsebene zurück, <strong>und</strong> die Politik nahm zunächst<br />

wieder Stammescharakter an. Die organisatorische Basis des christlichen<br />

heiligen Kosmos blieb jedoch weiterhin institutionell spezialisiert.<br />

Kurzum: Religion behielt einen hohen Grad institutioneller Spezialisierung<br />

bei, während der politische <strong>und</strong> ökonomische Bereich seine funktionelle<br />

Autonomie noch nicht zurückgewonnen hatte. Diese einzigartige Ubergangssituation<br />

erklärt das strukturell sozusagen 'unwahrscheinliche' Schicksal<br />

des Christentums als einer institutionell spezialisierten <strong>und</strong> gesellschaftlich<br />

(beinahe) universalen Religion in den Gesellschaften des europäischen<br />

Mittelalters. In verschiedenen Säkularisierungstheorien wurde diese Konstellation<br />

übrigens als eine fast naturwüchsige Verbindung von Gesellschaft <strong>und</strong><br />

Religion verkannt.<br />

Das Gegenteil sollte langsam unter Beweis gestellt werden. Kompetenzstreitigkeiten<br />

(z.B. über Investitur, Wucher) zwischen Staat, Religion <strong>und</strong><br />

dem entstehenden Kapitalismus kennzeichnen die Übergangsphase vom Mittelalter<br />

zur Neuzeit. Die Verselbständigung der Macht im Staat <strong>und</strong> der<br />

Aufstieg absolutistischer Staaten mit zentralistischen Verwaltungsapparaten,<br />

das Wachstum der Städte, der Kontakt mit fremden Kulturen, besonders<br />

mit dem Islam, die „Wiederentdeckung" antiker Wissenssysteme während<br />

der Renaissance, die eigentümlich abendländische technologische Nähe<br />

<strong>und</strong> Anwendung der Wissenschaft, all das veränderte die Gr<strong>und</strong>strukturen<br />

der Gesellschaft. Eine der wichtigsten Folgen dieser Entwicklung war, daß<br />

die Religion zur „Ideologie" eines institutionellen Subsystems wurde. Die<br />

strukturelle Differenzierung führte dazu, daß die Kompetenz institutionalisierter<br />

Religion zunehmend auf den privaten Bereich eingegrenzt wurde.<br />

(Das eigentliche Aufkommen eines Begriffes, der unserem Verständnis von<br />

Privatheit entspricht, läßt sich natürlich erst auf die Moderne zurückdatieren.)<br />

Die Verbindung des heiligen Kosmos zum Alltag wurde entscheidend<br />

geschwächt. Die „säkularisierten" Teile der Gesellschaftsstruktur entwickelten<br />

pragmatische Normen, deren zweckrationaler Charakter die Ablösung<br />

dieser institutionellen Bereiche von den durch den traditionellen heiligen<br />

Kosmos verkörperten Werten rechtfertigte. Es entstanden zahlreiche, miteinander<br />

konkurrierende theoretisch-ideologische Systeme, jedes auf einer<br />

eigenen <strong>gesellschaftliche</strong>n Basis.<br />

Diese Entwicklung beschleunigte sich gegen Ende des 18. <strong>und</strong> im Laufe<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Während der traditionelle christliche heilige Kosmos<br />

aufhörte, weite Bereiche des Alltagslebens mit auch nur einigermaßen zusammenhängendem<br />

Sinn zu erfüllen, nahmen bestimmte Werte, die im politischen<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Lebensbereich verwurzelt waren (genauer: dem<br />

sich zuspitzenden Klassenkonflikt dieser Zeit entstammten), den Charakter<br />

„sakraler" Themen an. Politische <strong>und</strong> ökonomische Ideologien wären Aus-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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