07.03.2014 Aufrufe

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

nur rhetorisch wiederholt werden können. Sie sind auch tatsächlich anwendbar.<br />

Die Überwindung der konfessionellen Bürgerkriege in der frühen<br />

Neuzeit mag auch ohne antike Autoren gelungen sein, tatsächlich aber stellten<br />

sie Lehren bereit, die unmittelbar handlungsanleitend waren. Sie enthielten<br />

ein prognostisches Potential, das die neuen Erfahrungen um ihren<br />

Überraschungseffekt brachte. Religiöse Intoleranz wurde kalkulierbar, politisch<br />

berechenbar <strong>und</strong> deshalb zäh<strong>mb</strong>ar.<br />

Wir können bis zur Gegenwart gehen <strong>und</strong> eine Vermutung anstellen.<br />

Wir wissen nicht, welche Argumente Dubczek 1968 im Kreml zu hören bekam,<br />

bevor er sich den sowjetischen Bedingungen unterwarf. Aber die<br />

Gr<strong>und</strong>struktur der Argumente findet sich bei Thukydides in seinem berühmten<br />

Dialog zwischen den Athenern <strong>und</strong> den Bürgern von Melos. Der<br />

11<br />

Melier-Dialog besteht in einer auf zwei Rollen verteilten Argumentation,<br />

die modern formuliert auf eine alternative Bedingungsprognose hinausläuft,<br />

um handlungsanleitend zu wirken. Thukydides definierte die Einstellung<br />

der Melier in einem Satz als Wunschprognose: Sie nehmen die verhüllte<br />

Zukunft aus lauter Wunsch schon für Gegenwart <strong>und</strong> irrten deshalb. Die<br />

Athener dagegen beriefen sich auf das Gesetz der Macht, das sie nicht erf<strong>und</strong>en,<br />

sondern nur übernommen hätten, um es anzuwenden. Nach dem<br />

Austausch der Argumente, in denen sich Hoffnung <strong>und</strong> Erfahrung gegenüberstanden,<br />

inhaltlich gesprochen das Rechtsbewußtsein der Melier <strong>und</strong><br />

der gewollte Machtmißbrauch der Athener, berichtet Thukydides nurmehr<br />

in drei Zeilen, wie die Melier nach ihrer Unterwerfung hingerichtet, ihre<br />

Frauen <strong>und</strong> Kinder versklavt wurden. Das analoge Geschick blieb Prag erspart.<br />

Die Tschechen haben sich gebeugt.<br />

Es wäre unsinnig, hier eine lineare Wirkungsgeschichte des Thukydides<br />

konstruieren zu wollen. Es gibt vielmehr geschichtliche Erfahrungsstrukturen,<br />

die einmal ausformuliert nicht verlorengehen, die sich auch unter<br />

völlig veränderten Bedingungen moderner Machtausübung oder neuer<br />

Rechtsauffassungen durchhalten: Ihnen wohnt eine prognostische Kraft<br />

inne, die von metahistorischer Dauer ist <strong>und</strong> die jederzeit für politische<br />

Hochrechnungen genutzt werden kann.<br />

Ich komme zum Schluß. Die theoretische Unterscheidung zwischen<br />

unseren drei Zeitverläufen, der kurzfristigen Aktionen, der mittelfristigen<br />

Ablaufzwänge sowie der langfristigen bzw. dauerhaft wiederholbaren Möglichkeiten<br />

zeigt uns, daß sich ihr Verhältnis im Laufe der neueren Geschichte<br />

gr<strong>und</strong>legend verändert.<br />

Kurzfristige Prognosen sind heute deshalb schwerer zu stellen, weil die<br />

Faktoren, die in sie eingehen müssen, selber vervielfältigt worden sind. Gewiß<br />

gehen Elemente metahistorischer Dauer in sie ein, aber die Vielfalt<br />

der universalen Rahmenbedingungen aller einzelnen Handlungen hat sich<br />

erhöht, ihre Komplexität ist schwerer beherrschbar.. Kurzfristige Prognosen<br />

waren einfacher, solange in der frühen Neuzeit die Zahl der agierenden<br />

Handlungsträger überschaubar blieb, solange die Lebensdauer der<br />

Fürsten als Menschen in ihrer endlichen Begrenztheit politisch kalkulierbar<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!