07.03.2014 Aufrufe

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Für staatliches Handeln gilt die Regel, daß es sich in der Darstellung von<br />

Ereignissen an den präskripten Regeln seiner Handlungsbefugnisse orientiert,<br />

daß gleichsam die Deskription mit der Präskription in Übereinstimmung<br />

gebracht wird, d.h. daß staatliche Dokumente des Konfliktgeschehens<br />

unter einem strukturellen Glaubwürdigkeitsverdacht stehen.<br />

Die dritte Bemerkung schließlich bezieht sich auf einen Kernpunkt<br />

meiner Studie, nämlich die staatlichen Regelverletzungen. Hier besteht ein<br />

Dilemma nicht nur in empirisch-phänomenologischer Hinsicht, sondern<br />

auch mit Blick auf jenes Eingangszitat aus Alice im W<strong>und</strong>erland. Ich möchte<br />

das Problem in die Form einer Frage bringen: darf man in einer wissenschaftlichen<br />

Untersuchung Bilddokumente, unwidersprochene Zeugenaussagen<br />

über Polizisten, die auf am Boden liegende Demonstranten einschlagen,<br />

in den Kategorien <strong>und</strong> der Sprache des Strafrechts beschreiben, also<br />

etwa als Körperverletzungen im Amt <strong>und</strong> damit als kriminell bezeichnen,<br />

auch wenn etwa eine entsprechende Anzeige eingestellt, eine gerichtliche<br />

Überprüfung aus Gründen der strafprozessualen Unklärbarkeit negativ ausgefallen<br />

oder —- was die Regel zu sein scheint —, wenn ein solcher Vorgang<br />

überhaupt nicht zur Aufmerksamkeit der Justiz gebracht wird? Mit guten<br />

Gründen ließe sich argumentieren, daß solche Feststellungen <strong>und</strong> die Verwendung*<br />

solcher Kategorien des Strafrechts der Zuständigkeit der staatlich<br />

dafür vorgesehenen Instanzen <strong>und</strong> Prozesse vorbehalten bleiben sollten.<br />

Andererseits basiert z.B. die Dunkelfeldforschung der Kriminologie<br />

darauf, solche juristischen Wertungen <strong>und</strong> Feststellungen zu treffen. Andererseits<br />

auch läßt sich für die Studien zur Studentenbewegung <strong>und</strong> zum<br />

Terrorismus zeigen, daß es offenbar keine Hemmungen gibt, die Handlungen<br />

der Studenten umstandslos in die Semantik des Strafrechts zu übertragen,<br />

bei der Beschreibung der Handlungen der staatlichen Instanzen<br />

jedoch schlicht von Regelverletzungen zu sprechen, sie, wenn nicht juristisch<br />

erwiesen, als nichtexistent zu betrachten oder sie in einer Weise zu<br />

beschreiben, die die subjektive Komponente, d.h. das intentionale Element<br />

einer strafbaren Handlung ausspart.<br />

Das Dilemma besteht, auf eine kurze Formel gebracht, in dem Verhältnis<br />

von justizieller zur wissenschaftlichen Wahrheit: ist man als Wissenschaftlicher<br />

den Kriterien, Indikatoren, Beweisregeln <strong>und</strong> Urteilen unterworfen,<br />

die das Recht vorschreibt <strong>und</strong> anwendet, um die Wirklichkeit<br />

festzustellen? Ist die Wirklichkeit fürs Recht auch diejenige für die Wissenschaft?<br />

Die Frage so gestellt, scheint zwar die Antwort schon mitzuliefern,<br />

es empfiehlt sich aber, bei ihrer genauen Formulierung eine sprachliche<br />

Anleihe bei Radio Eriwan zu machen, um nicht wie ein kriminologischer<br />

oder sozialwissenschaftlicher Don Quichotte dazustehen: Im Prinzip hat<br />

die Wissenschaft natürlich ihre eigenen Regeln der Wirklichkeitserfassung,<br />

aber es kommt darauf an, wen <strong>und</strong> was sie untersucht.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!