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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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Dieses Lesen der Geschichte nimmt die Form eines historischen Mythos<br />

an, der zwei Hauptaussagen enthält. Die erste Behauptung ist, daß aus der<br />

europäischen mittelalterlichen Feudalwelt, in der Herren über Bauern herrschten,<br />

eine neue soziale Schicht, die städtische Bourgeoisie, hervorging<br />

(hervortrat, geschaffen wurde), die zuerst das alte System (das „ancien<br />

regime") wirtschaftlich unterminierte, <strong>und</strong> es dann politisch vernichtete.<br />

Das Ergebnis war eine marktbeherrschte kapitalistische Wirtschaft in Ko<strong>mb</strong>ination<br />

mit einem auf persönlichen Rechten basierenden politischen Repräsentativsystem.<br />

Die europäische Geschichte wurde sowohl von den Liberalen<br />

als auch von den Marxisten auf diese Weise beschrieben; <strong>und</strong> beide<br />

applaudierten diesem historischen Prozeß als „progressiv".<br />

Die zweite Behauptung in diesem historischen Mythos wird sehr klar in<br />

Karl Büchers Buch, Die Entstehung der Volkswirtschaft, festgehalten; hier<br />

unterscheidet Bücher drei aufeinander folgende Stufen der europäischen<br />

Wirtschaftsgeschichte — geschlossene Hauswirtschaft, Stadtwirtschaft <strong>und</strong><br />

Volkswirtschaft. Das Schlüsselelement, in dem Bücher die liberal-marxistische<br />

Übereinstimmung darstellt, ist die Wahrnehmung der modernen Geschichte<br />

als eine Geschichte der sich ausdehnenden wirtschaftlichen Kreise,<br />

in welchen der größte Sprung der der „lokalen" Wirtschaft zur „nationalen"<br />

Wirtschaft — selbstverständlich in einem Nationalstaat lokalisiert —<br />

war. Bücher hebt diesen Zusammenhang hervor, indem er betont, daß „die<br />

Volkswirtschaft das Produkt einer jahrtausendelangen historischen Entwicklung<br />

ist, das nicht älter ist als der moderne Staat" (1913, 90). Beachten<br />

Sie bitte am Rande wieder den Begriff „Entwicklung". Bücher hebt<br />

ausdrücklich die räumliche Verflechtung hervor, die implizit in den generischen,<br />

deskriptiven Kategorien der Werke vieler anderer bedeutender Sozialwissenschaftler<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zu finden sind: bei Comte <strong>und</strong><br />

Dürkheim, Maine <strong>und</strong> Spencer, Tönnies <strong>und</strong> Weber.<br />

Meines Erachtens sind diese beiden in dem vorherrschenden historischen<br />

Mythos der modernen europäischen Geschichte enthaltenen Behauptungen<br />

große Verzerrungen der wirklichen Geschehnisse. Ich möchte hier<br />

nicht ausführen, warum ich zu der Überzeugung gelangt bin, daß der Aufstieg<br />

einer Bourgeoisie, die auf irgendeine Weise eine Aristokratie vernichtete,<br />

mehr oder weniger das Gegenteil von dem ist, was wirklich geschah<br />

(nämlich die Verwandlung der Aristokratie in eine Bourgeoisie zur Rettung<br />

ihrer kollektiven Privilegien; diesen Fall habe ich an anderer Stelle erörtert<br />

(Wallerstein 1982). Ich ziehe es vor, meine Aufmerksamkeit auf den zweiten<br />

Mythos, den von den sich ausbreitenden Kreisen zu konzentrieren.<br />

Wenn die wesentliche Bewegung der modernen europäischen Geschichte<br />

die Entwicklung von der Stadtwirtschaft zur Volkswirtschaft, von lokalen<br />

Stätten zum Nationalstaat war, wo ist dann die „Welt" in dieser Vorstellung<br />

unterzubringen? Die Antwort lautet: im wesentlichen als eine Begleiterscheinung.<br />

Nationalstaaten werden als diejenigen politischen Einheiten betrachtet,<br />

die einen Teil ihrer Zeit <strong>und</strong> Energie (meist einen relativ kleinen<br />

Teil) für inter-nationale Aktivitäten: internationalen Handel, internationale<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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