07.03.2014 Aufrufe

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

lichkeiten einzuschränken, setze ich zweierlei voraus: Erstens soll die dreiphasige<br />

Verlaufsform mit Konstanz-Wandel-Konstanz <strong>und</strong> der Rückgang<br />

des Leistungswertes auch für jede Bildungsgruppe gelten. Zweitens soll<br />

zumindest zu Anfang der Entwicklung in den besser ausgebildeten Gruppen<br />

Leistung höher bewertet sein. Dann sind folgende Hypothesen denkbar:<br />

Zunächst könnten die Entwicklungen in beiden Bildungsgruppen<br />

parallel verlaufen <strong>und</strong> die Beziehung zwischen Bildung <strong>und</strong> Werten konstant<br />

bleiben. Dann liegt ein allgemeiner, von der Bildung unabhängiger Trend<br />

vor. Diese Hypothese nenne ich die Globaltrend-Hypothese. Sie geht zwar<br />

nicht auf Zusammenhänge zwischen Bildungsexpansion <strong>und</strong> Wertwandel<br />

ein, aber sie stellt eine Art Nullhypothese dar, von der ich vier weitere<br />

Hypothesen absetzen möchte, die inhaltlich gehaltvolle Aussagen über den<br />

Zusammenhang zwischen Bildung <strong>und</strong> Werten machen.<br />

Die erste Hypothese unterstellt, daß die besser ausgebildete Gruppe in<br />

der Phase des Wandels vorangeht, die schlechter ausgebildete aber schließlich<br />

wieder nachzieht. Bildung hätte hier also die Funktion eines Multiplikators.<br />

Der akute Wertwandel setzt sich von oben nach unten durch,<br />

auf die Dauer aber bleiben die Unterschiede gleich. Entsprechend nenne<br />

ich diese Hypothese die Avantgarde-Hypothese. Sie sagt also nur eine<br />

vorübergehende Veränderung der Beziehung zwischen Bildung <strong>und</strong> Werten<br />

voraus; über den ganzen Zeitraum ändert sich die Beziehung nicht. Sie<br />

dürfte vor allem dann zutreffen, wenn ein Wertwandel rein innerkulturell<br />

ausgelöst wird <strong>und</strong> abläuft: Mit charakteristischen Verzögerungen zwischen<br />

Milieus verschieben sich Werte, die Beziehungen zwischen Milieu <strong>und</strong><br />

Werten aber bleiben langfristig konstant. Das ist mit einem konstanten<br />

Anteil verschiedener Bildungsabschlüsse an der Bevölkerung durchaus<br />

vereinbar. Die erste Hypothese nimmt also keinen Bezug auf die Bildungsexpansion,<br />

die den Wertwandel begleitet. Das aber soll in den übrigen<br />

Hypothesen geschehen, für die die Rolle der Bildungsexpansion im Wertwandel<br />

genauer erläutert werden muß.<br />

Bildungsabschlüsse in modernen Industriegesellschaften sind doppeldeutig.<br />

Sie verweisen auf Qualifikationen <strong>und</strong> auf Werthaltungen. Sie bieten<br />

Lebenschancen, die sich im Beruf realisieren, <strong>und</strong> sie fordern eine Lebensführung,<br />

die sich in der Familie, in der Freizeit ausdrückt. Die Expansion<br />

weiterführender Bildung in den letzten 20 Jahren hat nun — so vermute<br />

ich — den Charakter von Bildung als Lebenschance <strong>und</strong> Lebensführung<br />

verändert. Sie hat die Selbstverständlichkeit des Statusanspruchs von<br />

Bildung erschüttert <strong>und</strong> die Lebenschance Bildung abgewertet. Zugleich<br />

aber wurde Bildung auch als Lebensführung — geistige Arbeit als zweckfrei<br />

betriebener, dennoch aber Sicherheit <strong>und</strong> materielle Versorgung garantierender<br />

Lebensinhalt — aufgelöst. Der Besitz von Bildungspatenten definiert<br />

heute statistische Gruppen, die sich durch die Teilhabe an der allgemeinen<br />

Kultur, durch Mitsprache an den öffentlichen Problemdefinitionen<br />

unterscheiden. Statt Lebenschancen zu bestimmen <strong>und</strong> eine Lebensführung<br />

zu prägen, ist Bildung mit einem kulturellen Lebensstil verb<strong>und</strong>en;<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!