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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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ist konfliktanalytisch ebenso erklärbar wie empirisch belegbar — hat nichts<br />

den Konflikt so angeheizt wie die fehlende oder versagende Kontrolle von<br />

Regelverletzungen durch staatliche Instanzen in der Auseinandersetzung<br />

mit der Studentenbewegung. Die Entgrenzungen staatlicher Gewalt, die sich<br />

auf der Basis der Rekonstruktion konkreter Konfliktereignisse detailliert<br />

nachzeichnen lassen, blieben ungeahndet. Ihnen gegenüber versagten die<br />

Kontrollinstitutionen, denen gemäß dem Prinzip staatlicher Gewaltenteilung<br />

die Aufgabe zukommt, staatliche Gewalt in Grenzen zu halten.<br />

Kontrollimmunität ließ sich bezüglich der Durchführung justizieller<br />

Verfahren gegen Regelverletzungen staatlicher Instanzen ebenso feststellen,<br />

wie es fast ausnahmslos zum Ritual der politisch Verantwortlichen gehörte,<br />

nach Konfrontation zwischen Demonstranten <strong>und</strong> den staatlichen Instanzen<br />

Rechtmäßigkeitserklärungen noch vorab aller Rechtmäßigkeitsprüfungen<br />

abzugeben. Und wiederum trat dies am eindrucksvollsten aus Anlaß des<br />

Schah-Besuchs in Berlin zutage, als der damalige Regierende Berliner Bürgermeister<br />

bald nach der Teilnahme am Festakt in der Berliner Staatsoper<br />

der Polizei öffentlich behutsames <strong>und</strong> in den Grenzen des Rechts <strong>und</strong> der<br />

Vorschriften gebliebenes Handeln bescheinigt hatte, was ihn — neben dem<br />

damaligen Polizeipräsidenten <strong>und</strong> dem Innensenator — ja auch dann bald<br />

das Amt kostete. Und selbst noch in der Arbeit des Berliner parlamentarischen<br />

Untersuchungsausschusses, der die Vorgänge um den 2. Juni aufklären<br />

sollte, wurde das Kontrolldefizit sichtbar, das gegenüber den staatlichen<br />

Instanzen obwaltete. Im übrigen kann man dies alles als eine zynische verhaltensmäßige<br />

Materialisierung dessen betrachten, was in der Zeit der Auseinandersetzung<br />

als das notwendige „Zusammenrücken aller staatlichen<br />

Instanzen <strong>und</strong> Gewalten" genannt, gefordert <strong>und</strong> praktiziert wurde.<br />

Gravierender <strong>und</strong> verhängnisvoller — <strong>und</strong> dies soll meine letzte Bemerkung<br />

zu Eskalationsmechanismen sein — als die Regelverletzung selbst <strong>und</strong><br />

das Nichtfunktionieren der Kontrollinstitutionen war für die Eskalation des<br />

Konflikts ein weiterer Umstand, der sich als eine Steigerung des institutionellen<br />

Zynismus begreifen läßt. Nicht nur wurden Gewaltentgrenzungen<br />

<strong>und</strong> Rechtsverletzungen der staatlichen Instanzen geleugnet, ignoriert, mit<br />

Gegenanzeigen der Verleumdung oder des Widerstands gegen die Staatsgewalt<br />

konterkariert, sondern zum Beweis der Begründetheit dieser Leugnung<br />

<strong>und</strong> zur Rechtmäßigkeit des Handelns wurde die Tatsache genommen, daß<br />

Anzeigen <strong>und</strong> Verfahren gegen staatliche Amtsträger eingestellt, nicht verfolgt<br />

<strong>und</strong> abgewiesen wurden. Die sich darin ausdrückende staatliche Selbstgerechtigkeit,<br />

die strukturell begründet ist in der buchstäblich zu verstehenden,<br />

rechtlich verankerten Möglichkeit <strong>und</strong> Praxis der Herrschaft über die<br />

Wirklichkeit, scheint mir zum einen der treffendste Begriff für die beschriebenen<br />

Zusammenhänge, zum anderen eine spiegelbildliche Aufnahme <strong>und</strong><br />

Reaktion des Staates <strong>und</strong> seiner Amtsträger auf den moralischen Rigorismus<br />

der Studenten <strong>und</strong> ihrer daraus verständlichen Behauptung, daß der<br />

Rechtsstaat nur Maskerade sei.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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